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Rezension zu
Meine dunkle Vanessa

Erschreckend und verstörend

Von: ein.lesewesen
06.09.2022

Diesen Roman sollte man unbedingt mit einer Triggerwarnung versehen, denn es geht um sexuellen Missbrauch von Minderjährigen. Vanessa ist 15 und ein schüchternes Kind, dass sich zurückgezogen hat, nachdem ihre beste Freundin ihr den Rücken gekehrt hat. Sie hat Schwierigkeiten, mit Gleichaltrigen Freundschaft zu schließen. Ihre Sehnsucht und Einsamkeit versucht sie zu verarbeiten, indem sie Gedichte schreibt. Jacob Strane, ihr Englischlehrer, lobt sie, schmeichelt ihr, sagt ihr, sie sei etwas ganz Besonderes. Worte, die bei Vanessa auf fruchtbaren Boden fallen. Strane hat leichtes Spiel mit ihr, nutzt ihre Einsamkeit geschickt aus, weiß sie zu manipulieren, mit Worten, die sie hören will, mit Gesten, nach denen sie sich sehnt. Sie fühlt sich verstanden. Denn hier geht es nicht um attraktive Äußerlichkeiten – Strane ist in ihren Augen alt, schwammig und trägt eine Brille mit Metallgestell – es geht um Aufmerksamkeit. Das ist es, was Vanessa am meisten fehlt. »Als Strane und ich uns kennenlernten, war ich fünfzehn und er zweiundvierzig, und damit lagen fast die perfekten dreißig Jahre zwischen uns.« Auch zwanzig Jahre später hat sie noch immer eine verklärte Sicht auf die Dinge. Sieht sich nicht als Opfer – ihn nicht als Täter. Als ein anderes Mädchen, Taylor, das ebenfalls von Strane missbraucht wurde, Anzeige gegen ihn erstattet und seine Taten auf Facebook öffentlich macht, spürt man Vanessas Zerrissenheit. Ununterbrochen beobachtet sie den Post, wie die Likes steigen, wie oft er in kürzester Zeit tausendfach geteilt wird. Noch immer hat sie mit Strane Kontakt, sieht noch immer nichts Verbotenes in dem, was damals geschah, redet sich noch immer ein, es sei Liebe gewesen, die sie verband.<br>Als junge Frau ist sie traumatisiert, sie bekommt ihr Leben kaum in den Griff, ist ziellos und abhängig von Alkohol und Drogen. Wenn sie sich mit Männern trifft und Sex hat, ist ihr Körper eine seelenlose Hülle. Mehrmals bekommt sie die Chance, ihre Geschichte öffentlich zu machen, doch sie nimmt ihn weiterhin in Schutz. Noch immer glaubt sie, es war kein Missbrauch, sondern eine magische Verbindung. In ihren Augen ist das keine Pädophilie, schließlich hat er ja gesagt, sie sei keine 9 mehr, sondern 15 – und mit 15 sei man schon eine Frau. Das Buch wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Während sich die Gegenwart (2017) auf einen kurzen fortlaufenden Zeitraum beschränkt, erleben wir Vanessas Vergangenheit als Entwicklung über mehrere Jahre. In vielen Szenen wird deutlich, wie Strane immer noch Macht über sie hat, obwohl er nicht körperlich anwesend ist, beherrscht er ihre Gedanken. Beim Lesen habe ich mich innerlich darauf vorbereitet, dass ihr irgendwann ein Licht aufgehen müsse. Ob dem so ist, müsst ihr aber selbst herausfinden. Vanessa empfindet auch deutliche Wut auf ihn, doch bleibt es immer nur im Ansatz stecken, was ein Mal mehr ihre innere Zerrissenheit zeigt. »»Wäre ich hier, wenn ich nicht hier sein wollte?«, frage ich, als läge die Antwort auf der Hand. Was über uns in der Luft hängt, mein Zorn, mein Gefühl von Erniedrigung, mein Schmerz, all das klammere ich aus. Die scheinen mir die wahren Monster zu sein, all diese unaussprechlichen Dinge.« S. 308 Es ist ein schwieriges Buch, eins, das mir an vielen Stellen Bauchschmerzen bereitete. Selten musste ich ein Buch so oft aus der Hand legen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte. Es ist fesselnd und verstörend, es hat mich wütend gemacht. Ein perfides Spiel aus Manipulation, Einschüchterung, emotionaler Abhängigkeit und Lügen. Kate Elizabeth Russel schreibt schonungslos und bisweilen sehr detailliert und explizit. Sie dringt tief in Vanessas Psyche ein, dass ihre Gedanken einem als Leser glaubhaft und widersinnig zugleich erscheint. So realistisch aus der Sicht des Opfers zu schreiben, ihr Trauma Seite für Seite mitzuerleben, geht schon an die Substanz. Das führt natürlich auch dazu, dass man für Vanessa nur wenig Sympathie aufbringen kann, trotz allen Verständnisses, dass sie letztlich das Opfer ist. Russell schafft es, verständlich zu machen, wie solche ungeheuerlichen, unvorstellbaren Dinge geschehen können. Es fällt mir schwer, für dieses Buch eine Empfehlung auszusprechen, da ich mir sicher bin, dass es viele nicht lesen können. Aus verständlichen Gründen. Doch wer sich auf das Thema einlassen kann, sollte dies tun. Dennoch kann ich nicht behaupten, dass es ein Highlight war. Stellenweise hatte es viele überflüssigen Szenen, die weder mit der Entwicklung noch mit Vanessas Charakter zu tun hatten und nur als Lückenfüller dienten. Auch die Treffen von ihr mit Strane waren manchmal echt langatmig. Von dem sogartigen Schreibstil wurde ich nicht erfasst, gerade wegen des letzten Drittels, das langsam vor sich hin dümpelte und kein wirklich befriedigendes Ende bot. Ich habe in letzter Zeit einige Bücher zu dem Thema Kindesmissbrauch gelesen, meist Thriller. Auch dort wurde auf die psychischen Folgen, die Grausamkeiten und die Aussagen der Täter eingegangen, die sich ihre Taten schönredeten. Einen Thriller kann man leichter abstreifen, dieses Buch nicht. Man kann leicht auf den Gedanken kommen, dies habe sich genau so abgespielt. Deshalb betont Kate Elisabeth Russell schon im Vorfeld, dass es sich um reine Fiktion handelt, die sich so nicht abgespielt hat. Allerdings nahm sie andere Geschichten als Vorlage, um diesen Roman zu schreiben. Noch ein paar Worte zu »Grooming«. Es bezeichnet genau das, was in dem Buch beschrieben wurde. Wenn sich Erwachsene Kinder gefügig machen und sich ihr Vertrauen erschleichen. Es werden zum Beispiel Komplimente gemacht, wie in diesem Fall Vanessa immer wieder zu hören bekam, wie einzigartig sie als Schülerin ist, dass sie seine Seelenverwandte ist. Diese Form der Annäherung dient dem Zweck, die anschließend zu missbrauchen.

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