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Rezension zu
Ferne Gestade

Flucht und Exil, Liebe und Verrat, Familienfehde und postkoloniale Verwicklungen

Von: Buch_zeit
21.06.2022

Das bisher zehn Romane umfassende literarische Werk Abdulrazak Gurnahs, 1948 im Sultanat Sansibar, Teil des heutigen Tansanias, geboren, wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Der Penguin Verlag ermöglicht es, das bisher nur spärlich ins Deutsche übersetzte Werk des Nobelpreisträgers zu erkunden. „Das verlorene Paradies“, Gurnahs literarischer Durchbruch, erschien in deutscher Übersetzung von Inge Leipold im Dezember 2021 und entführt den Leser nach Ostafrika Ende des 19. Jahrhunderts in eine ferne, im Umbruch begriffene Welt. Dieses Roman habe ich Euch bereits empfohlen! „Ferne Gestade“, im Original 2001 erschienen wurde am 14. März 2022 in der durchgesehenen und um ein erklärendes Glossar erweiterten Übersetzung von Thomas Brückner im @penguin_verlag neu aufgelegt. Vielen lieben Dank an den Verlag und @bloggerportal für das kostenlose Rezensionsexemplar! In „Ferne Gestade“ spannt Abdulrazak Gurnah ein komplexes Erzählpanorama auf, von Ostafrika nach Europa und erzählt eine Geschichte von Flucht und Migration, Liebe und Verrat, Verführung und Besessenheit, der Suche nach Sicherheit und Halt im Chaos der postkolonialen Verwicklungen. Es ist die Geschichte zweier Emigranten aus Sansibar, deren Schicksal und Erinnerungen eng miteinander verwoben sind, wobei ihre Erfahrungen im Exil komplett verschieden sind. An einem späten Novembernachmittag des Jahres 1993 landet Saleh Omar auf dem Flughafen Gatwick. Der ältere Mann aus Sansibar, der sich des eng mit seiner Vergangenheit verknüpften Namens Rajab Shaaban bedient, hat nur eine kleine Tasche mit wenigen Kleidungsstücken und seinem wertvollsten Besitz, einem Mahagonieschächtelchen mit Ud-al-qamari, einer besonderen Art Weihrauch, dabei. Der ehemalige Geschäftsmann, Ehemann und Vater beantragt als Flüchtling Asyl in England. Die Maschinerie der Einwanderungs- und Asylbehörden läuft ebenso an wie die Unterstützung durch Hilfsorganisationen und Saleh Omar landet in einem kleinen Ort an der englischen Küste. Da er vorgab, kein Englisch zu verstehen, wird sich um einen Übersetzter bemüht. Dieser potentielle Übersetzter ist der zurückgezogen in London lebende Literaturdozent Latif Mahmud, der selbst vor vielen Jahren aus Sansibar emigrierte, allerdings mit Umweg über den „sozialistischen Bruderstaaat“ DDR. Die beiden Männer treffen sich und die Vergangenheit entrollt sich. Ihre Lebensgeschichten sind über familiäre Verwicklungen und vor allem jahrzehntealte Fehden eng miteinander verwoben. Besitz und Geld, Rache und Vergeltung die Triebfedern des Streits. Abdulrazak Gurnah lässt seine beiden Protagonisten mithilfe zahlreicher Rückblicke und mit wechselnden Perspektiven ihre Geschichte erzählen. Es ist eine verschlungene Lebens- und Fluchtgeschichte, eine Geschichte von Familie, Handel, Schuld und Vergebung, Kolonialismus und seinen Folgen, Tyrannei, Migration und Fremdsein, aber auch von Liebe und Verrat und Erinnerungen. Der Autor spannt einen unglaublich komplexen Erzählkosmos auf und blickt sehr differenziert und nuanciert auf seine Themen. Wir tauchen als Leser ein in die kosmopolitische Welt des Indischen Ozeans, in der die Monsunströmung, Wind und Meer eine Gemeinschaft schaffen, in der Handel und kultureller Austausch prosperieren, aber auch wie die Überheblichkeit der europäischen Kolonialmächte und ihre grausame Anmaßung diese Welt zerstören und ihr Abzug das entwurzelte Ostafrika in Chaos, Verwüstung und Tyrannei stürzt. Der Weihrauch Sinnbild und Erinnerung an eine Heimat und Kultur, die vergangen sind. Aber nicht nur der Kolonialismus und seine Folgen wird aufgezeigt, auch das Leben in der DDR mit seinen Restriktionen und Bespitzelungen und das Leben als Flüchtling, die Entwurzelung, Fremdenfeindlichkeit und Sprachlosigkeit, das englische Asylsystem. Gurnah zeigt auf, dass hinter jedem Flüchtling eine individuelle tragische Geschichte steht. Die wechselnde Ich-Perspektive zwischen Saleh und Latif bringt dem Leser die Gedanken- und Gefühlswelt der beiden ganz unterschiedlichen Flüchtlinge nahe. Und zeigt an der tragischen Verstrickung ihrer Schicksale auf, dass es immer zwei Perspektiven gibt, dass die Gespenster der Vergangenheit die Gegenwart heimsuchen, aber auch Buße und Versöhnung möglich sind. Ein wenig hadere ich mit dem deutschen Titel. Natürlich finden sich die Protagonisten geographisch wie emotional an „Fernen Gestaden“ wieder, aber der Originaltitel „By the Sea“ ist viel poetischer, offener und bezieht sich nicht nur aufs Exil. Da hätte ich mir etwas ähnliches in der Übersetzung gewünscht. Dieser realitäts- und gegenwartsnahe Roman hat mich tief bewegt. Nach einem etwas schwierigen Einstieg in die Geschichte war ich gefesselt von Gurnahs unprätentiöser, eindringlicher Prosa, den Themen und Motiven die er entfaltet. Feinsinnig und lebendig, zuweilen poetisch, immer besonnen und urteilslos lässt Gurnah den Leser an der Geschichte dieser beiden Männer, ihren familiären Verstrickungen und des im politischen wie gesellschaftlichen Umbruch befindlichen Sansibars teilhaben. Und er erzählt nuanciert von Flucht und Fremdsein. Ich kann Euch diesen tiefgründigen und nachdenklich machenden Roman sehr empfehlen! Ein Meisterwerk der postkolonialen Literatur! Ich freue mich schon auf die Lektüre von Gurnahs jüngstem Roman „Nachleben“, der im Herbst in deutscher Übersetzung erscheint.

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