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Rezension zu
Aufruhr der Meerestiere

Strudel der Gefühle

Von: Fraedherike
05.06.2022

"Wie kann ich Nähe zu einem Wesen herstellen, das sich mir stetig entzieht? Wie kann ich Verantwortung für dieses Wesen übernehmen, wenn es mir doch immer fremd bleiben wird?" (S. 135) Scheinbar schwerelos gleitet sie durch das Wasser, blaugrün leuchtend begrenzen ihre Rippen den bauchigen Körper: die Meerwalnuss. Die Meeresbiologin Luise ist seit jeher von den Rippenquallen beeindruckt, und hat sich an ihrem Forschungsinstitut in Kiel einen Namen als Expertin für diese Wesen gemacht. Als sie das Angebot bekommt, für ein Projekt mit einem Tierpark nach Graz zu fahren, sagt sie sofort zu. Doch schnell wird ihr Vorfreude getrübt: Graz, das ist auch ihre Heimatstadt - und da ist die Wohnung ihres Vaters, in der sie während ihres Aufenthalts wohnen würde. Eines Vaters, der immer abwesend und fremd, sprachlos war, denn sie hatten sich ihrer gemeinsamen Sprache irgendwann bewusst verweigert. "Jede Geschichte lässt sich auf mehrere Arten erzählen. Als Entdeckung oder als Eroberung, als Siegeszug oder als Untergang. Es hat nicht einmal jede den gleichen Anfang, es gibt auf jeden Fall nie ein Ende." (S. 85) Schwebend, nicht greifbar, aber in dieser Verletzlichkeit so unglaublich kraftvoll erzählt Marie Gamillscheg in "Aufruhr der Meerestiere" einerseits von einer durch frühere Traumata geprägten Vater-Tochter-Beziehung und den Spuren, die diese hinterlassen haben, vielmehr jedoch ist es die Geschichte einer jungen Frau, die Halt und ihre (Körper-)Grenzen sucht und aus den ihr auferlegten Schablonen, vatergegebenen Grenzen auszubrechen versucht. Während ihre Mutter in ihrem Leben kaum präsent zeigt, ist es immer der Vater, zu dem sie als kleines Kind Kontakt suchte. Doch gerade dieses Streben soll ihrem Verhältnis, je älter Luise wird, zum Verhängnis werden: Er vermittelt dem noch jungen Mädchen ein toxisches Bild, wie Frauen zu sein, ihre Körper auszusehen haben. Es scheint fast, er hat Angst vor ihr, seine Blicke zeugen von Scham. Die Folge: Luise ekelt sich vor sich selbst, ihrem Körper und entwickelt eine Essstörung, die sie bis in ihr Erwachsensein begleitet. Immer wieder sagt sie, dass sie nur im Hunger ein Mensch werden könne, nur dann die Grenzen ihres Selbst erahnen würde. Sie versucht, unsichtbar zu sein, versteckt sich vor der Welt, wie eine Insel, fernab des Festlands vor den Blicken verborgen, und sie verbirgt auch ihre Haut, die unter äußeren Einflüssen - Stress, Konkurrenzdruck, hohe Erwartungen - reagiert, unter Schichten von Schminke. Luise ist eine Insel, zurückgezogen und sensibel - ähnlich der Meerwalnuss, ihrem großen Faszinosum; es scheint fast, als anthropomorphisiere sie das Quallentier. Einem wild im Wind strudelnden Mobile gleich erzählt Marie Gamillscheg in Bildern aus der Gegenwart und Vergangenheit, von Luises Kindheitserinnerungen und ihren gegenwärtigen Ängsten und Gefühlen. Alles vermischt sich kaleidoskopartig, klar und großformatig, unscharf und zerrissen - und doch immer geprägt von Rastlosigkeit, Einsamkeit und unendlicher Sehnsucht, wie in Trance. Doch ebenso wichtig wie die Textfragmente sind das Dazwischen, das Ungesagte und die Stille, die noch lauter schreien. Das Buch hat mich gleichermaßen begeistert, getroffen weil angesprochen und auch verwirrt, wenn ich im Strudel von Luises Gedanken und dem, was sie sagte, meine Schwimmflügel verlor. Die Art und Weise, wie der Roman konstruiert ist, spricht für das feine Gespür der Autorin, Emotionen aufzubauen, im Kopf wachsen zu lassen und hinterrücks zu übermannen, freudig ob der Abkühlung. Einige Gedanken ihre Essstörung betreffend haben mich schon irgendwo aufblicken lassen, vergleichend, aber nicht wiedererkennend, bis auf diesen einen Satz, der unglaublich viel in sich trägt: "Ich bin so unendlich satt von mir, und dabei erinnere ich mich an kaum etwas, das ich in den letzten zwanzig Jahren erlebt habe." (S. 221) - Doch an dieses Buch werde ich mich noch lange erinnern, die Sprachbilder, den Schmerz, die Folgen unbedachter Worte.

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