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Rezension zu
BÄR

Tierische Nähe

Von: Bjoernandbooks
09.05.2022

Raus aus der Stadt, rein in die Natur. Lou steht ein vermeintlich entspannter Sommer auf einer kleinen Insel im Norden Kanadas bevor. In ihrer Funktion als Bibliothekarin soll sie dort für ihr Institut den Nachlass eines Colonels ordnen und katalogisieren, eine Arbeit, die sich schon nach kurzer Zeit als gar nicht so langwierige Angelegenheit herausstellen soll. Auf der Flussinsel angekommen wird Lou jedoch mit einem „Mitbewohner“ konfrontiert: ein Bär, der dort vom Colonel als Quasi-Haus-und-Hof-Tier gehalten wurde. Die zunächst einsetzende Skepsis weicht schnell einer Bewunderung für das beeindruckende Tier, schließlich einer Zuneigung und final einer besonderen Form der Liebe und des Sich-Angezogen-Fühlens. Lous Leben beginnt sich zu verändern, und sie spürt, dass sie die Insel anders verlassen wird, als sie sie betreten hat... „Bär, ich kann dir nicht befehlen, mich zu lieben, aber ich glaube, du liebst mich. Ich will, dass du nicht aufhörst, zu sein und für mich da zu sein. Nichts weiter. Bär.“ (S. 151) Bereits vor über vierzig Jahren erschien „Bär“ von Marian Engel 1976 und gilt als einer der wichtigsten kanadischen Romane der neueren Zeit. Die Faszination, die von diesem Werk ausgeht, ist während der Lektüre gepaart mit vielen widerstreitenden Emotionen: Da sind Abscheu und Belustigung, Hingabe und Irritation, Empathie und Abwehrhaltung. Marian Engel nimmt uns als Leser*innen mit in die Isolation dieser Insel und schafft einen Gegenentwurf zum Nature Writing. Die Natur wird hier vielmehr zur Kulisse für die Persönlichkeitsentwicklung einer Frau kurz vor dem Bruch, einer Frau, die sich über ihre Geschichte mit einem Bären entwickelt, aus sich herauskommt, ja nahezu aufblüht und an Stärke gewinnt. Doch kommen wir zum Punkt, der in den Diskussionen zu diesem Buch wahrscheinlich den wohl auch zurecht größten Raum einnimmt: die sehr direkten Schilderungen von körperlicher Liebe zwischen der Protagonistin und dem Bären. Im von Kristine Bilkau verfassten, sehr hilfreichen Nachwort wird klar, dass es hier keineswegs um eine symbolhafte Vielleicht-Fabel geht. Engel sieht den Bären per se nicht als Stellvertreter, sondern möchte eins zu eins erzählen. Ausgelöst durch die sexuellen Erfahrungen mit dem Bären durchlebt Lou die Erlebnisse der Vergangenheit, ruft sich Beziehungen emotionaler und körperlicher Art mit anderen Menschen in Erinnerung, macht sich Gedanken über ihr Frau-Sein – innerhalb der Gesellschaft und auch ganz individuell für sich selbst. Der Text wird somit zu einer feministischen Selbstreflexion und zeigt somit induktiv Chancen und Wege auf. Das Explizite der sodomistischen Akte verstört selbstverständlich dennoch, lässt uns sprachlos und auch kopfschüttelnd zurück. Und trotzdem übte „Bär“ auf mich auch schon ohne die Lektüre des Nachworts eine seltsame Faszination aus, hinterließ einen Glanz und Firniss, der mit Sicherheit auch der Direktheit im Ton, der Unverstelltheit der Sprache geschuldet ist, die komplett ohne metaphorische Poesie auskommt. Lous Tätigkeit als Archivarin und ihre selbstgewählte Isolation erfahren über ihre Nähe zum Bären ein In-Klausur-Gehen der besonderen, nicht immer gesellschaftsfähigen Art. Und das hinterlässt Grübelei – auf eine gute Art! Dass „Bär“ nach vielen Jahrzehnten der Absenz nun wiederentdeckt und seinen Weg auch in die deutschsprachige Literatur geschafft hat, erachte ich als durchaus große Bereicherung. Vielleicht würde ich ihn nicht unbedingt als „einen der wichtigsten Romane Kanadas“ bezeichnen; mit Sicherheit liefert er aber einen essentiellen Beitrag zum feministischen Diskurs, der sich nur nicht auf den ersten Blick erschließen mag. Ich bin den Weg gerne mitgegangen und werde mich auch in den nächsten Tagen noch ein wenig der Grübelei hingeben.

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