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Rezension zu
Nachtwanderung

Einfach grandios

Von: Fraedherike
17.04.2022

"Blatt werden und den Wind spüren. Irgendwann loslassen und davonfliegen. Ein ganzes Leben für einen einzigen Taumel. Jeden Moment auskosten, mehrmals um die eigene Achse, hoffen auf Aufwind, neuen Wind, noch einmal ein Stück nach oben, hoffen, dass es nur nicht zu schnell vorbei sein möge. Die Einsicht, dass es nicht geht, dass das hier keine Rutschbahn ist, die man noch mal, noch mal, noch mal erklimmen kann, dass der Rausch ein malig ist und am Ende der feuchte Boden wartet. Weiche Erde, Fußgetrappel, Tiergeraschel. Ein Ort, um zu sterben, zu vergeben, Fraß zu werden für Schnecken und Regenwürmer." (S. 73) Ines und Kirsten, Freundinnen für immer. So sagten sie sich. Doch dann kam die Nachtwanderung, eine dunkle Stunde, in der sich die beiden aus den Augen verloren - und von einem Tag auf den anderen war Kirsten plötzlich nicht mehr da. Da war Ines dreizehn und verstand die Welt nicht mehr. Wieso lässt sie sie einfach im Stich, wieso hat sie nichts gesagt? Sie verschwand spurlos, der Kontakt brach ab. Immer wieder fragt sich Ines, was sie falsch gemacht, übersehen haben könnte, aber ihre Gedanken verlieren sich im Nichts. Der Zeit vergeht, Staub legt sich über die Erinnerungen; Ines wird erwachsen, heiratet und bekommt eine Tochter. Sie ist immer bemüht, es allen recht zu machen, den Ansprüchen zu genügen, die "perfekte" Mutter zu sein - doch als sie eine Einladung zu einem Klassentreffen bekommt, passiert etwas in ihr: lange verdrängte Erinnerungen brechen sich bahn, die Gedanken an Kirsten und was damals war, verfolgen sie tags wie nachts. Und sie muss feststellen, wie sehr sie der Verlust ihrer einstigen Freundin geprägt hat. Sie hat Angst davor, ihr bei der Feier wieder zu begegnen, doch wie groß stehen die Chancen, dass sie überhaupt kommt? Doch da ist sie, steht plötzlich neben ihr. Die Erinnerungen prallen aufeinander und alles gerät aus den Fugen. Sind sie wirklich die, die sie glauben zu sein? Immer wieder gibt es diese versteckten Perlen, Bücher, die ihre Sogwirkung im Verborgenen entfalten - so auch "Nachtwanderung" von Cornelia Achenbach. Es ist eine Geschichte, die von Verlust erzählt, von all den Facetten der Mutterschaft, von Heimtücke und einer besonderen Art von Liebe, von einer scheinbar perfekten Freundschaft, die bei näherer Betrachtung ihren Glanz verliert. Ebenso wie die Erinnerungen, an das, was war, das Ereignis, das sie beide entzweite. Immer wieder werden Ines' Gedanken von Szenen ihrer Schulzeit geflutet, eine Zeitreise zurück in die 80er Jahre: Pferdemädchen, Verbotene Liebe, Neckereien der Jungs hinten im Bus. Kirsten. Sehnsucht. Neid? Mehr und mehr versteht sie nicht, was das für eine Beziehung war, die sie zu Kirsten hatte, war es eine freundschaftliche Liebe, Missgunst? Scham, definitiv. Und doch haben all die Dinge, die geschahen, sie zu der gemacht, die sie heute ist. Die Konfrontation mit Kirsten jedoch soll offenbaren, welchen Einfluss die Zeit auf die Erinnerungen hat, sie formt und verändert, die eine Dinge vergessen lässt, die die andere niemals vergessen wird. Immer ist es eine Frage der Perspektive, der Wahrnehmung - und alles geht kaputt. Nicht nur in Bezug auf vergangene Dinge, auch in der gegenwärtigen Welt ist Ines als Mutter einer kleinen Tochter immer wieder den Meinungen Anderer ausgesetzt, die es besser wissen, gut gemeinte, aber unnütze Ratschläge parat haben. Und natürlich hat auch ihre Tochter häufig andere Dinge im Kopf. Manchmal hat Ines einfach genug von all den Ansprüchen, dem Druck, der Last der Erinnerungen und Ungewissheiten. Zwar war ich nicht in den 80er Jahren in der Schule, habe weder Verbotene Liebe geguckt noch zu Kurt Cobain getanzt, und doch haben die Beschreibungen der Schulzeit, der Beziehungsgefüge und internen Machtspiele, der Sehnsucht nach Anerkennung, dazuzugehören etwas mit mir gemacht; das sind Bilder, die ich kenne, die damals meine Welt ausmachten, im Guten wie im Schlechten. Cornelia Achenbach lässt all wie in einer Zeitkapsel wieder aufleben, sie macht mit ihrem einzigartigen Stil Gefühle mit Worten greifbar und erzeugt zugleich durch eine gewisse Nüchternheit und kleine Spitzen Abstand. Oftmals fühlte ich mich befangen, atemlos, konnte das Buch nicht beiseite legen - und dann wieder diese große Freude, Bilder, die mich innehalten, schmunzeln ließen. Aber wow, was für ein geniales Plotting, was für eine Sprache!

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