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Rezension zu
Das verlorene Paradies

Vom Zerbrechen einer Gesellschaft an Kolonialismus und religiösen Spannungen

Von: not_without_my_books
04.01.2022

„Das Verlorene Paradies“ ist der vierte Roman des Literaturnobelpreisträgers 2021, Abdulrazak Gurnah. Ursprünglich erschienen 1994, wurde es im Dezember 2021 neu aufgelegt. Protagonist ist Yusuf, der Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen Eltern in einer nicht näher beschriebenen kleinen Ortschaft in Ostafrika lebt. Als Heranwachsender wird er von seinen Eltern mit dem Kaufmann Aziz schickt, den er bisher als seinen Onkel kennt. Schnell erfährt er jedoch, dass Aziz nicht sein Onkel ist, sondern Yusuf ein Pfand für die Schulden seiner Eltern bei Aziz. Der Roman begleitet Yusuf beim Heranwachsen, auf den Reisen des Kaufmanns durch die sich zunehmend verändernde Generation. Den historischen Kontext bilden die Verbreitung des Islam in der Region, der Niedergang der arabischen Vorherrschaft in Ostafrika und die beginnende deutsche Kolonialherrschaft. Gurnah zeigt anschaulich, wie regionale Glaubenspraktiken die Interpretation des Islam beeinflussen, wie Überzeugungen der eigenen religiösen Überlegenheit verbunden mit der Kolonialherrschaft gesellschaftliche Spaltung befördern. Die Verbreitung des Islam führt zur Abwertung traditionalen Glaubens, obwohl der Großteil der Bevölkerung Arabisch gar nicht versteht. Die muslimischen Händler bilden zunehmend brüchige Allianzen mit den deutschen Kolonialherren, die die Handelstätigkeiten zulassen und den Händlern gegebenenfalls gegen die alte Elite des Landes, gegen skeptische Dorfhäuptlinge (unzuverlässige) Unterstützung bieten – was wiederum die vorhandenen innergesellschaftlichen Spaltungen vorantreibt. Auch die Pluralität der Gesellschaft wird deutlich, wenn muslimische Bevölkerungsteile auf die indische Diaspora stoßen, die durch die britische Kolonialherrschaft nach Afrika gelangt ist, oder wenn Stammestraditionen und muslimische Vorstellungen miteinander konkurrieren, wobei beide Seiten davon ausgehen, die legitimere Position zu vertreten. Frauen spielen sich am Rand ab, sind Besitztum und Versorgerinnen der Männer, im Sinne dessen, was von Yusuf gesellschaftlich erwartet wird einschüchternd für den Heranwachsenden, werden von der Öffentlichkeit und von Männern ferngehalten und treten, wenn sie in die Öffentlichkeit treten, als Mutter oder verrückte Alte auf. Man könnte diese traditionellen und stark religiös geprägten Geschlechtervorstellungen im Roman kritisieren, doch werden sie nicht verteidigt, sondern entsprechend des zeitlichen Kontexts realistisch dargestellt. Ebenso verhält es sich mit Homosexualität, die auf Yusuf ebenso einschüchternd wirkt wie Heterosexualität und Sexualität an sich, die aber nicht per se negativ dargestellt, sondern mehr oder weniger offen gelebt wird. Wer postkoloniale Literatur liest, ist angesichts aktueller Neuerscheinungen vermutlich zunehmend weibliche Perspektiven gewöhnt, erwartet vielleicht eine sexismus- und rassismussensible Sprache. Gerade die älteren postkolonialen Autor*innen wie Farah oder Gurnah folgen dem jedoch nicht immer, sondern nutzen oft bewusst auch pejorative Sprache, um die Deutlichkeit von Herrschaftsverhältnissen und Diskriminierung aufzuzeigen. Viele der meist männlichen Figuren bedienen sich sexistischer und rassistischer Formulierungen. Das kann irritieren, auch wenn es sehr gut passt, durch eine editorische Notiz eingeordnet wird und zur Authentizität beiträgt. Ich mochte den Roman sehr, weil der Autor mit scharfem Blick die gesellschaftlichen Spannungen einzufangen weiß, dabei den Heranwachsenden Yusuf empathisch porträtiert und nichts beschönigt oder die Komplexität der Situation durch monokausale Interpretationen vereinfacht. Stellenweise wird selbst die deutsche Kolonialherrschaft als ambivalent dargestellt, da sie eben für die Kaufmannseliten durchaus Vorteile bietet – auch wenn der Preis dafür vielleicht den Verlust des Paradieses bietet. Auch hier schwebt aber die unbeantwortete Frage im Raum, was die verschiedenen Akteur*innen unter Paradies verstehen mögen. Positiv ist auch die Übersetzung von Inge Leipold, die die Atmosphäre des Buchs sehr gut einfängt. Allerdings setzt Gurnah sehr viel Vorwissen voraus, das ich selbst nur studiumsbedingt habe und das nicht unbedingt bei allen potentiellen Leser*innen vorausgesetzt werden kann. Das erschwert den Zugang und eine generelle Empfehlung ohne vorhandenes Hintergrundwissen, auch wenn ich das Buch sehr gern weiterempfehlen möchte, weil ich es wirklich gut finde. Möglicherweise eignen sich aber andere seiner Bücher noch eher als Einstieg.

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