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Rezension zu
Der große Wind der Zeit

Der große Wind der Zeit

Von: Myriade
27.12.2021

Den Luchterhand Literaturverlag habe ich kürzlich entdeckt. Sehr empfehlenswert für Leser*innen, die sich für zeitgenössische Literatur interessieren. Ich habe begonnen, mich durch das Verlagsprogramm zu arbeiten. Meine Nummer 1 war DIESES ebenso interessante wie verstörende Buch, dies ist nun meine Nummer 2, die für mich auch unter die Lesegenüsse fällt und eine Nummer drei wartet noch darauf gelesen zu werden. Der Roman spielt im heutigen Israel und umfasst Szenen aus dem Leben von vier Generationen einer Familie, wobei die älteste Generation vertreten durch Omama Eva durch deren Tagebuch zu Wort kommt, das von ihrer Urenkelin Libby gelesen und szenisch fantasiert wird. Eva ist eine Tänzerin, die in den 1930er Jahren in Berlin lebt und intensive Beziehungen zu Nazis unterhält. Sie heiratet in Israel einen Jemeniten, bekommt einen Sohn, pendelt zwischen Orten und zwischen ihrer Leidenschaft als Tänzerin und politischem Engagement in Israel. In einer sehr starken Szene versucht sie erfolglos ihre in Wien lebenden Eltern davon zu überzeugen nach Israel auszuwandern. Die Eltern glauben nicht an die Schrecken, die ihnen ihre Tochter für die nahe Zukunft ausmalt. Es wird dann nur noch lakonisch berichtet, in welchen KZs sie ermordet wurden Auch die Urenkelin Libby ist eine ungewöhnliche Frau. Zu Beginn des Romans hat sie gerade ihre Tätigkeit als Verhörspezialistin für palästinensische Häftlinge bei der israelischen Armee gekündigt. Bei einem ihrer letzten Verhöre lernt sie einen Palästinenser kennen, der des Terrors verdächtigt wird, einen Historiker, der in Coventry an seiner Doktorarbeit scheibt und nur nach Israel gekommen ist um am Begräbnis seiner kleinen Cousine teilzunehmen, die von der Armee erschossen wurde, weil sie mit einer Stricknadel herumspielte, die von den Soldaten für eine Waffe gehalten wurde. Libby und der als Terrorist verdächtigte interessieren sich für die Sicht des jeweils anderen „Was für ein Spaß, mit dir zu streiten“ Er schmolz förmlich vor Vergnügen „Wenn alle Israelis so wären wie du, wäre das super unterhaltsam“ „An dem Tag, an dem alle Palästinenser wie du sind, Adib, werden sie entdecken, dass die meisten Israelis so wie ich sind“ S 356 „Du bist die dritte Generation der Flüchtlinge und ich bin die vierte Generation von Flüchtlingen“ erwiderte Libby. „Willst du einen Krieg zwischen mir und dir und unseren Kindern wegen Leuten, die wie Fausi al-Kawukdschi oder sein Kontrahent Hadsch Amin al-Husseini in Nazibegriffen einer totalen Vernichtung dachten ?“ „Ich möchte keinen Krieg mit dir“ entgegnete Adib „aber wir haben eine Menge zu bereden“ „Eine Menge“ stimmte ihm Libby zu „und wir werden reden“ „Also wann kommst du nach Coventry? fragte er „Am Tag nach meiner Entlassung aus der Armee“ antwortete sie „in genau zwei Wochen“ S 444 Ich möchte hier nicht alle Personen vorstellen, die in diesem bunten Gemälde des israelischen Alltags vorkommen. Orthodoxe Armeekommandanten gehören ebenso dazu wie korrupte Politiker, übergriffige Psychologen, rebellische Töchter, Lebemänner und -frauen … Eine weitere Hauptgestalt dieses Romans ist Uri, der sich Dave nennt, der Sohn von Eva ist und der Großvater von Libby. Er ist über achzig, Mitbegründer eines Kibbuz, durch dessen Geschäfte er gerade reich wird. Er fährt oft und gerne mit seinem Motorrad (Harley-Davidson WLC 43 aus den Tagen von Pearl Harbor S34 ) durchs Land, je unwegsamer die Strecken durch die Wüste umso lieber. Eine meiner Lieblingsszenen in diesem Roman ist die Unterhaltung zwischen Dave und einem langjährigen palästinensischen Freund. Die beiden alten Herren unterhalten sich auf einer Ebene von Mensch zu Mensch, sie kennen und respektieren die jeweils andere Sprache und Kultur und nehmen die politische Situation, wie sie nun einmal ist. „Inschallah. Adib macht schon den Doktor fertig. Redet englischeres Englisch als euer Regierungschef. „Unser Ministerpräsident spricht Amerikanisch, kein Englisch“ präzisierte Dave. „Der Junge wird nachhause zurückkommen und der Kulturminister in unserer Regierung, wenn wir einen Staat haben“ „Ihr werdet einen Staat haben, ihr werdet eine Regierung haben, ihr werdet Schmach und Schande haben wie wir“ tröstete Dave seinen Gastgeber und langjährigen Freund. (…) „Die Liebe sieht das Gute. Die Enttäuschung sieht das Schlechte. Die enttäuschte Liebe sieht das Ganze“ zitierte Dave ein altes arabisches Sprichwort „Du hast drei Söhne, alhamdulillah, einer erfolgreicher als der andere, warum enttäuschte Liebe?“ wunderte sich Saliman über seinen Gast. „Wir haben das, was wir geschaffen und erreicht haben mit viel Leid erreicht“ sagte Dave „doch wie haben eine Generation von Vergnügungsjägern großgezogen. Strecken die Beine über den Deckenrand hinaus und bringen sich um für teure Leichenhemden.“ „Die Unterhaltung mit dir, chawadscha Daud, ist wie in einem Buch lesen“ „Auch mit dir, Saliman “ (…) S169 Tatsächlich ist dieser Roman ein Aufruf zu menschlichem Miteinander in einer politisch unlösbar erscheinenden Situation. Der Autor schreibt auch gegen die Klischeevorstellungen von der israelischen Geschichte und Gesellschaft, die nicht so stereotyp ist, wie wir uns das in Europa vorstellen. Joshua Sobol, Der heute wohl bekannteste Dramatiker Israels verfasste neben zahlreichen Bühnenstücken auch Romane, die sich immer mit dem Thema Israel oder dem jüdischen Glauben befassen. Er wurde 1939 geboren, noch zu Zeiten des Völkerbundmandats für Palästina, lebte zeitweise in einem Kibbuz, studierte Literatur und Geschichte in Israel und Philosophie in Paris. Es ist ein anspruchsvoller Roman, ich habe zum Beispiel einiges an Geschichte Israels und Palästinas nachgelesen. Es ist auch ein Roman, der Lösungen für möglich hält auf die kaum jemand mehr wetten wollte. Schließlich ist es auch ein sehr liebevoll geschriebener Roman, der sich aber fernhält von jeder Sentimentalität. Sehr empfehlenswert Es ist schon sehr lang geworden, trotzdem gäbe es jede Menge Textstellen, die ich noch gerne zitieren würde, denn der Text hat sehr viele Facetten. Auf keinen Fall verzichten kann ich aber auf die Erwähnung der Textstelle, die dem Buch seinen Namen gegeben hat: „(…) und dann lebten sie wieder zusammen, bis ein großer Wirbelwind kam, der ihn in die Arabische Abteilung und sie in die Deutsche Abteilung des Palmach blies, und da haben sie selbst die Flügel ausgebreitet, schwangen sich auf den großen Wind der Zeit und flogen mit ihm wie die Kraniche, die keine Angst vor Höhe und Weite haben, und sperrten sich nicht ein wie panische Mäuse in ihren Löchern…“ S 429

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