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Rezension zu
Grenzgänge

Die Möglichkeit der Freiheit

Von: Letteratura
25.10.2021

Hauptfigur in „Grenzgänge“, dem vor kurzem im Luchterhand Verlag erschienenen Roman des finnisch-kosovarischen Autors Pajtim Statovci, ist Bujar, der in Tirana aufwächst, den es aber schon früh hinauszieht in die Welt und vor allem weg aus Albanien, wo er sich eingeengt fühlt. Zusammen mit seinem Freund Atim aus Kindertagen träumt er von einem Leben in Europa, und nachdem sich seine Familie durch Tod und Verschwinden auf ihn und seine Mutter reduziert hat, hält ihn nichts mehr. Es beginnt eine Odyssee, die ihn nach Italien, New York und schließlich nach Helsinki führt, immer auf der Suche nach einem Ort, an dem er sich zu Hause fühlen kann. „Grenzgänge“ bzw. das Überwinden von Grenzen lässt sich also vor allem auf das Wandeln durch die Welt beziehen, wobei hierbei die nachvollziehbaren, klar definierten Grenzen zwischen den Ländern gemeint sind, die für den Albaner Bujar nicht immer leicht zu überwinden sind. „Grenzgänge“ gibt es aber noch viel mehr in diesem äußerst komplexen Roman: Bujar entzieht sich selbst aller Grenzen, oder zumindest versucht er es. Am liebsten möchte er alles Trennende, alles in starren Kategorien Bezeichnende, schlicht ignorieren. Das gilt auch für Geschlechterzuschreibungen. Selten formuliert der Autor diese aus, und das ist eine Stärke des Buches. Seine Figuren müssen nicht in Schemata von schwul, lesbisch und heterosexuell passen, Bujar wird nicht eindeutig mit dem Wort trans beschrieben. So gibt es keine klaren Etiketten und Schubladen, so bleibt stets durchlässig, was Bujar ist, sein kann oder will, was er*sie jemals sein wird. Auf seinen Reisen durch die Länder erfindet Bujar sich immer wieder neu. Für jede Begegnung erzählt er sich und seinem Umfeld eine neue Geschichte über sich selbst, gibt sich einen neuen Namen, ein neues Geschlecht. Und wo man streng genommen vielleicht sagen könnte, dass er sie alle belügt, so ist das dann doch viel zu kurz gegriffen, so sind diese stets neuen Ichs immer auch Schritte auf dem Weg zu sich selbst. Es ist ein harter Weg. Bujar ist ein Verlorener und vor allem einer, der viel verloren hat. Der sich zwar anderen annähert, Beziehungen eingeht und Menschen in sein Leben lässt, dennoch aber stets etwas zurückhält – weil er nicht anders kann. Immer wieder wird er dabei auch Opfer von transfeindlichen und homophoben Angriffen und Beleidigungen. Oft bricht er abrupt seine Zelte ab und zieht weiter, immer auf der Flucht vor den Traumata der Vergangenheit, denen er aber nicht entkommt. Pajtim Statovci erzählt mit einer ungeheuren Intensität, sprachlich ohne große Schnörkel, aber klar und fesselnd. So folgen wir Bujar auf seiner Suche nach dem, was ihm am Ende möglicherweise ein wenig Frieden geben kann. Die Ich-Perspektive und dieses so intensive und sinnliche Erzählen tragen dazu bei, dass Bujar einem bei der Lektüre sehr nah ist, dass man fast das Gefühl hat, mit ihm zu verschmelzen, seine Einsamkeit und seine Isoliertheit so klar spürt, dass man gar nicht dazu kommt, ihn zu bewerten oder vielleicht auch einige seiner Entscheidungen zu verurteilen. Bujar ist vor allem ein Opfer, jedoch und vor allem eines, das keins sein will. Pajtim Statovci vereint somit mehrere wichtige Komponenten in seinem Roman: Da ist die Flucht aus Albanien und die verächtliche Sicht der Westeuropäer auf die Nachbarn aus dem Osten, denen der Weg in den Westen schwer gemacht wird. Da ist die Suche nach der eigenen Identität, die Bedeutung von Geschlechterrollen und das Ringen des Protagonisten darum, sich irgendwo darin wieder zu finden. Aber es geht auch familiäre Bindungen, denen man sich letztlich dann doch nicht oder nur sehr schwer entziehen kann, um Herkunft und Klasse. Eingeflochten werden in die Geschichte auch immer wieder alte Märchen und Mythen, an die Bujar sich in späteren Jahren erinnert. Es ist also eine ganze Menge, das Statovci unterbringt in „Grenzgänge“, doch an keiner Stelle ist der Roman überfrachtet, hat man das Gefühl, dass er zu viel gewollt hat. „Grenzgänge“ bewertet seinen Helden nicht, verzichtet auf klare Zuschreibungen. „Grenzgänge“ lässt einen vielmehr etwas erleben und erfahren. Ein intensives Leseerlebnis, fesselnd, beeindruckend und ein Highlight dieses Leseherbstes.

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