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Rezension zu
Die Tränen der Welt

Ein opulentes Gesellschaftsporträt: Arbeiter- und Kirchenkampf im Barcelona der Jahrhunderwende

Von: Schneeweißchen und Rosenrot
23.09.2021

Das Buch im gebundenen Format ist optisch und haptisch ein Hingucker bzw. „Anfasser“. Das Titelbild zeigt einen Blick durch ein im Modernisme gestaltetes Fenster auf Barcelona und das Meer im Hintergrund, ein Hinweis auf die Architektur, die im Roman eine große Rolle spielt, zumal Dalmau, der Protagonist, auch als Keramiker auf den großen Baustellen der Zeit tätig ist. Das Buch erinnert vom Format, von der fließend weichen Qualität des Papiers und von der Gestaltung der Initialen zu Beginn jedes Kapitels an eine hochwertige Bibelausgabe, was es zum Schmökern eines 700seitigen historischen Romans allerdings etwas unhandlich macht, ein Kontrast zur massiven Kritik an der damaligen Kirche, gegen die Emma, die zweite Protagonistin und große Liebe Dalmaus, fanatisch kämpft. Die ersten 200 Seiten des Romans sind ein Angang: viele Namen, nicht von Romanfiguren, sondern von Straßen in Barcelona und von Künstlern, insbesondere von Architekten und ihren Bauwerken, verwirren den Leser statt ihm klare Bilder vor Augen zu stellen. Aber dann ist man drin, mitten im Leben von Dalmau und Emma und mitten im Leben der einfachen Arbeiter in Barcelona, in ihrem Elend, ihrer Not, ihrer Ausbeutung und Unterdrückung durch die Reichen, Mächtigen, insbesondere durch die Kirche. Immer wieder wird der Leser mit den beiden Hauptfiguren auf und abgerissen in den Wirbelstürmen ihres Lebens im Kampf für ein besseres Leben für sich selbst, für die Ihren und für ihre Klasse. Ist Dalmau zu Anfang noch bemüht, durch seine Kunst in die Welt der Reichen aufzusteigen, wie die seines begüterten, traditionell dem Katholizismus zugewandten Arbeitgebers Manuel Bello, muss er schnell feststellen, dass das nicht seine Welt ist. Emma dagegen findet recht schnell ihre Bestimmung als Kämpferin in den Reihen der Republikaner, die für die Interessen der Arbeiter einstehen, einen freien Sonntag, einen Achtstundentag, höhere Löhne. Die Rolle der Frauen dabei ist besonders: In einer Welt, in der sie immer wieder der Gewalt und Übergriffigkeit der Männer ausgesetzt sind, die auch die attraktive Emma am eigenen Leib erfahren muss, marschieren sie in den großen Streikwellen, die Barcelona um die Jahrhundertwende immer wieder überrollen, mit ihren Kindern vor den streikenden Arbeiter, um sie gegen die Guardia Civil und das Militär zu schützen. Auch Emma erlebt immer wieder das Auf und Ab des Lebens, das Glück einer Liebe, die Geburt einer Tochter, der Erfolg als Lehrerin, die den Arbeiterinnen Lesen und Schreiben beibringt, als Rednerin und Kämpferin der Revolution, aber auch die Erniedrigung und Demütigung, den Hunger und die Obdachlosigkeit, die Verfolgung und die Inhaftierung im Kampf gegen die Kirche und die besitzende Klasse. Immer wieder führen die Wege Dalmau und Emma zu- und auseinander. Diese beiden Lebenswege sind es, die den Leser in den Bann ziehen: wie wird es mit ihnen ausgehen? Die Figur der Emma mit ihrem blinden Eifer, ihrem Geschrei, Gekeife und ihren Prügeleien auf der Straße ist mir zu radikal, die Kritik an der Kirche zu einseitig: Im guten marxistischen Sinne wird ihr immer wieder vorgeworfen, sich nur um die Bedürftigen zu kümmern, um diese mit ihren Lehren zu indoktrinieren, um sie in ihrem Elend gefangen zu halten und von ihrer Ausbeutung zu profitieren sowie die Herrschaftsverhältnisse der besitzenden Klasse zu stabilisieren. Was sich der Leser hingegen gut vorstellen kann, ist das Leben der einfachen Arbeiter, der Arbeitslosen, Bettler und Obdachlosen zur Zeit der Industrialisierung in Barcelona. Insgesamt auf jeden Fall ein spannendes Gesellschaftsporträt, das Elemente der Sozial- und Kunstgeschichte verbindet und an dem Leben von Emma und Dalmau zum Leben erweckt: Kirchen-, Arbeiter- und Kampf der Kunstrichtungen im Barcelona um 1900. Ein – meines Wissens – nach – in historischen Romanen selten thematisiertes Sujet und von daher auf jeden Fall bereichernd und lesenswert.

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