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Rezension zu
Der gefrorene Himmel

Ein gefrorener Himmel

Von: LiteraturReich
06.06.2021

Dass mir die traurige Geschichte der kanadischen Residential Schools erst im letzten Jahr richtig bekannt wurde, mag am auch bei mir durch den angekündigten Buchmesseauftritt gesteigerten Interesse an Literatur aus dieser Ecke der Welt liegen. Wahrscheinlich liegt es aber mindestens genauso daran, dass man erst in jüngerer Zeit begonnen hat, diese dunkle Episode der kanadischen Geschichte aufzuarbeiten. Dementsprechend dünn ist auch die Reihe der literarischen Werke, zumal der ins Deutsche übertragenen, die sich damit auseinandersetzen. Eisfuchs von Tanya Tagaq ist ein Beispiel aus dem vergangenen Jahr, das dies auf ganz andere Weise tut als Richard Wagamese in Der gefrorene Himmel. Richard Wagamese trug mit seinem 2012 erschienenen und 2017 von Clint Eastwood verfilmten Roman Indian Horse (Originaltitel) zur Debatte um die Residential Schools bei. Der 1955 geborene Wagamese verarbeitet im Roman auch seine eigene Kindheit in diesen Schulen und in Pflegefamilien. Vorbild für den Hauptprotagonisten Saul Indian Horse war aber der kanadische Profieishockeyspieler Frederick Sasakamoose (1933 – 2020), einer der ersten indigenen Spieler der NHL. Saul ist, wie der der Autor, ein Angehöriger des Stammes der Ojibwe. Seine Familie lebt in den Wäldern im nordwestlichen Ontario. Die Eltern, Onkel und Tanten sind traumatisiert von ihren Jahren auf den Residential Schools und haben sich in die „Wildnis“ zurückgezogen, um ihre Kinder vor dem Zugriff staatlicher Stellen zu schützen. Doch was waren diese berüchtigten Residential Schools? Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet und vorwiegend von kirchlichen Trägern geführt, sollten diese vorwiegend wie Internate geführten Einrichtungen der Erziehung von indigenen Kindern dienen. Durch die Gewährung bestimmter Vorrechte wurden die Eltern erpresst, ihre Kinder in diese Schulen zu geben, später kam es auch zu simplen Entführungen der Kinder durch die Royal Canadian Mounted Police. Ziel war es, die Kinder ihren indigenen Wurzeln zu entreißen, zu „zivilisieren“. Ihre Muttersprachen waren verboten, Besuche der Eltern nur selten erlaubt, Traditionen waren tabu. Dazu kamen sadistische Bestrafungsmethoden, häufiger sexueller Missbrauch, harte Arbeitseinsätze und schlechte Ernährungs- und Unterbringungsbedingungen. Im Jahr 1909 berichtete eine Untersuchungskommission von einer durchschnittlichen Sterberate von Kindern in Residential Schools von unglaublichen 30-60% während der ersten fünf Jahre ihres Aufenthalts. Erst seit den 1970er Jahren gab es größeren Protest gegen diese Einrichtungen, kritische Untersuchungen staatlicherseits erst seit den 1990er Jahren. Die letzte dieser „Schulen“, die kaum der Wissensvermittlung dienten, wurde 1996 geschlossen. 1998 kam es zu einer ersten Entschuldigung durch den Minister of Indian Affairs, 2008 entschuldigte sich Premierminister Harper offiziell, was Trudeau 2017 wiederholte. Die katholische Kirche, namentlich Papst Franziskus weigert sich bis heute. 2015 erklärte die „Truth and Reconcilation Commission“ die Vorgänge zum „kulturellen Völkermord“. Viele ehemalige Schüler dieser Residential Schools sind nachhaltig traumatisiert. Sauls Schwester Rachel wurde als Sechsjährige noch vor seiner Geburt „gekidnappt“, seinen Bruder Benjamin erwischten die staatlichen Stellen trotz Ausweichen in die Wildnis 1957 in Kenora. Da war er acht und Saul vier Jahre alt. Die Eltern verfallen daraufhin immer mehr dem Alkohol der „Zhaunagush“, wie sie die Weißen nennen und siedeln aus diesem Grund wieder näher an den Sägewerkstätten, in Zeltlagern nahe Minaki oder Redditt. Dort findet sie 1960 Benjamin, der aus seiner Schule fortgelaufen ist. Auf Betreiben der Großmutter Naomi siedelt die Familie wieder weit außerhalb, um den Behörden zu entgehen. Doch Benjamin ist gezeichnet, er hat Tuberkulose (eine sehr häufige „Begleiterscheinung“ des Aufenthalts in den Residential Schools) und überlebt den Herbst nicht. Um ihm ein christliches Begräbnis zu ermöglichen – entgegen der an alte Traditionen festhaltenden Großmutter sind die Eltern durch ihre eigene Residential School-Erfahrung christlich geprägt – fahren die Eltern wieder in die Siedlung und lassen Großmutter und Saul zurück. Die Eltern werden nicht wiederkommen. Der herannahende Winter zwingt sie, sich mit dem letzten verbliebenen Kanu und den wenigen Vorräten ihrerseits auf den Weg machen. Die Großmutter wird ihn nicht überleben. Für Saul bedeutet dies: Residential School. Saul Indian Horse übersteht das grausame Regiment der Pater und Nonnen und seine Einsamkeit verhältnismäßig gut dank seiner ruhigen Art, den Büchern, die er für sich entdeckt – und dem Eishockey, für das er eine große Begabung zeigt. Pater Leboutilier, selbst Eishockey-Enthusiast, fördert ihn, ermöglicht ihm die Teilnahme an Turnieren. Die Eisfläche wird zu seinem „gefrorenen Himmel“. Saul entkommt so der Hölle der Residential School, findet eine liebevolle indigene Pflegefamilie, entgeht aber trotz seines Talents nicht dem Rassismus, der auch im „weißen“ Eishockeysport präsent ist. Und erst nach einem persönlichen Absturz und der Rückkehr an den alten Ort der Schule erkennt der erwachsene Saul, dass auch er einige Traumata bisher verdrängt hat. Richard Wagamese erzählt die Geschichte von Saul Indian Horse in Der gefrorene Himmel in einer klaren, besonders in den Naturschilderungen sehr intensiven, am traditionellen Erzählen geschulten Sprache. Er bleibt immer nah an Saul dran. Das ist sehr bewegend ohne jemals rührselig zu werden. Ein Schuss Mystik fließt in die Erzählung unaufdringlich ein. Das macht den Roman nicht nur zu einem aufklärenden, dringlichen Stück Literatur, sondern auch zu einem wahren Meisterwerk (indigener) kanadischer Literatur.

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