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Rezension zu
Über Menschen

Baumwollbeutel-Boheme gegen Saatkartoffel-Solitüde

Von: Atalante
06.05.2021

Juli Zeh erzählt in „Über Menschen“ von selbstgerechten Besserwissern und inkorrekten Hilfsbereiten. „Dora mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf stützen. In ihr wohnt etwas, das sich sträubt. Sie hat keine Lust auf den Kampf ums Rechthaben und will nicht Teil einer Meinungsmannschaft sein.“ Eine Seuche schleudert eine Frau in die Einsamkeit, wo sie als Selbstversorgerin zunächst gegen die Natur kämpfen muss und später gegen einen großen, aggressiven Mann. Ach ja, ein Hund ist auch mit von der Partie. Die Parallelen zu „Die Wand“ scheinen offensichtlich, doch Juli Zeh setzt in ihrem neuen Roman „Über Menschen“ andere Maxime als Marlen Haushofer in ihrer berühmten Dystopie. Die Werbe-Texterin Dora tauscht die Kreuzberger Baumwollbeutel-Boheme gegen eine Saatkartoffel-Solitüde im Brandenburgischen. Dort hatte sie vor Ausbruch der Pandemie preiswert ein altes Gutsverwalterhaus erstanden. Es wird zum neuen Zuhause als Dora aus der gemeinsamen Wohnung flieht. Robert, der doch für alle nur das Beste will, hat Dora das Leben schwer gemacht. Der nachhaltige Veganer achtet auf eine korrekte Lebensführung und seit dem Auftauchen des Virus auch auf die Einhaltung aller Hygieneregeln. Schließlich rettet sich Dora, die sich nur noch als „CO2-Problem und Corona-Keimschleuder“ wahrgenommen fühlt, aufs Land. Dort hat sie Ruhe, denn dort ist nichts los. Ihr Haus, so erfährt sie, war einst der Kindergarten von Bracken. Heute gibt es im Ort keinen mehr, genauso wenig wie eine Schule oder einen Lebensmittelladen. Berlin ist nah, doch der Bus fährt selten. Ein Auto hat Dora nicht, dafür einen Hund, ein Rad und schnelles Internet. Bald befällt sie das Gefühl „existentieller Chancenlosigkeit“. Das Stichwort steht auf der ersten Seite des Romans und erinnert mich an den bekanntesten Roman der großen Marlen Haushofer. Wie die Heldin dieser Geschichte greift auch Dora zum Spaten und legt einen Acker an. Ihre einzige Begleitung ist ein treuer Vierbeiner. Und wie in Haushofers Roman tritt auch in dem von Zeh ein Mann auf, der den Hund bedroht. Dora begegnet ihm schon nach wenigen Seiten und nicht erst am Ende. Dort findet sich allerdings ein Satz, der als weitere Haushofer-Referenz gelten könnte. „Seit Doras Umzug hat in Bracken Tag für Tag die Sonne geschienen (…) als wäre das Dorf von einer großen, immer blau gestrichenen Glocke abgedeckt.“ Dora erhält, anders als die Einsame unter der Glasglocke, bald Gesellschaft. Gote, der bedrohliche Nachbar, stellt sich zwar als „Dorf-Nazi“ vor, dann aber doch manierlich an. So wie auch die übrigen Dorfbewohner mit ihrer Hilfsbereitschaft nicht zögern. Der von gegenüber rodet mit schwerem Gerät das Gestrüpp, ein anderer sammelt Dora am Einkaufzentrum ein, wo sie vergeblich auf den Bus wartet. Schließlich bringt jemand Saatkartoffeln. Und das alles ungefragt. Die kulturelle Kluft zur nur räumlich nahen Hauptstadt verstärkt Zeh durch Szenen aus ebendieser. Spätestens wenn sie für die Fahrt dorthin ihren kleinen Hund verstaut, erkennt man, wie weit die Sphären auseinanderliegen. Wer würde in Bracken schon seine Töle in einem Rucksack transportieren? Dora fährt wieder zurück. Ihr Abenteuer ist weniger gefährlich als das des von ihr verehrten Alexander Gerst, doch Mut braucht man nicht nur im All. Juli Zeh erzählt von zwei fremden Welten, indem sie ihre Protagonistin auf wenige, dafür disparate Figuren treffen lässt. Zur Wichtigsten, dem Antagonisten Gote, baut die Autorin eine Brücke mit einem Hund und einem kleinen Mädchen. Das ist glaubwürdig, auch wenn es klischeehaft klingt. Gegen Ende hin droht die Geschichte sentimental zu werden und drückt dann, so wie Dora es Gote vorwirft, ein bisschen auf die Tränendrüse. Doch das ist zum einen inhaltlich bedingt, zum anderen gelingt es Zeh vielleicht gerade dadurch, ihre Motive in gute Unterhaltung zu verpacken. Diese zeigt sich im Erzählfluss, der einen nach fulminantem Start sofort mitreißt. Doras Reflektionen bettet Zeh zwischen überraschende Reaktionen und schlagfertige Dialoge. Zwar „fällt“ zu Beginn etwas oft „der Groschen“, dafür entschädigen jedoch zahlreiche ironische Bemerkungen. Ihren Wortwitz offenbart Zeh nicht nur in den Ideen der Werbetexterin für die Ökojeans „Gutmensch“ des Labels „FAIRkleidung“. Er zeigt sich auch im Titel des Romans. Der erinnert an Zehs anderes Brandenburg-Buch, auf das sie verweist, „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben.“ Der Begriff „Über Menschen“ charakterisiert fast jede Figur des Romans, sei es Robert, der sein Verhalten über das der anderen stellt, oder Steffen, der als Kabarettist Gote aburteilt. Das Schwarz-Weiß-Denken, was bei Gote erwartbar wäre, erkennt Dora im Laufe der Geschichte auch bei sich selbst. „Es geht nicht darum, Widersprüche auszulösen, sondern sie auszuhalten“, so der Rat.

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