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Rezension zu
Dorfroman

Dorfroman

Von: LiteraturReich
28.02.2021

Dorfroman – im neuen Buch von Christoph Peters ist drin, was draufsteht. Und noch so viel mehr. Es ist nicht nur die hinreißende Geschichte einer Kindheit auf dem Land in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sondern auch eine melancholische Liebesgeschichte im Schatten der Anti-AKW-Bewegung der Achtziger und ein nachdenklicher Versuch über das Vergehen der Zeit, die Veränderung der Welt und über Verantwortung. „Roman“ ist das Buch überschrieben, und tatsächlich gibt es leichte Verfremdungseffekte, so etwa bei den Ortsnamen, wo etwa das niederrheinische Kalkar mit altertümlichem C geschrieben wird. Auch den Heimatort des Protagonisten, Hülkendonck, findet man auf keiner Karte. Und doch ist es sehr einfach ihn als den Heimatort des Autors, Hönnepel, zu identifizieren. Die Kirche im Roman nennt sich Verafredis, in Hönnepel heißt sie Regenfledis. Es ist also ganz eindeutig, dass Christoph Peters im Dorfroman seine eigene Kindheit und Jugend erzählt, sich dabei aber erzählerische Freiheiten erlaubt. Peters erzählt auf drei Zeitebenen, die er gekonnt miteinander verflicht. Einmal ist es die Zeit um 1973, das kleine Alter-Ego des Autors ist da im Grundschulalter, etwa sieben. Im noch stark bäuerlich geprägten Grenzgebiet zu den Niederlanden ist die alte Bundesrepublik fest verankert. Die Dorfgemeinschaft ist stabil, man kennt und unterstützt sich. Ein Ausscheren wird nicht geduldet. Der Rasen muss sorgsam gemäht und unkrautfrei, die Haare ordentlich geschnitten und das Auto sauber sein. Spätestens am Sonntag in der Kirche wird das kontrolliert. Man ist streng katholisch, selbst Protestanten misstraut man und „Mischehen“ werden nicht gern gesehen. Und man wählt politisch stramm konservativ. Kanzler Willy Brandt beäugt man äußerst kritisch. Der kleine Protagonist wächst hier sehr behütet auf und zweifelt, wie das für sein Alter typisch ist, seine Eltern nicht an. Der Vater ist Monteur für Landwirtschaftsmaschinen und schon immer hier zuhause. Die Mutter kommt aus der Stadt und ist Lehrerin. Ihre Ansichten sind aber eher noch rückwärtsgewandter als die des Vaters. Besonders erschreckend dabei ist, wie schnell und unbarmherzig die Menschen von ihr abgeurteilt werden, wenn sie den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen. Es herrscht ein erbarmungsloses Schwarz-Weiß, Wir und Misstrauen gegen alles andere. Wie eng das Weltbild dort in der Provinz noch war! Die Achtundsechziger und die damit einhergehende Befreiung sind hier bisher nicht angekommen. Eine ganz wichtige Rolle spielt die Kirche. Man geht regelmäßig zur Messe, der Vater ist im Kirchenvorstand. Als im benachbarten Kalkar eine neue Form von Kernkraftwerk, der Schnelle Brüter, gebaut werden soll und dafür Kirchenland benötigt wird, setzt er sich für den Verkauf ein. Das von Anfang an umstrittene Projekt spaltet die gewachsene Dorfgemeinschaft. Einige der Bauern stellen sich dagegen, unterstützen die aufkommende Anti-AKW-Bewegung. Als auch der Kirchenvorstand sich mehrheitlich gegen den Schnellen Brüter entscheidet, wird er kurzerhand vom Generalvikar entlassen. Ein unglaublicher Vorgang, in den sich sogar der Papst einschaltet. Leser*innen, die in etwa der gleichen Generation wie der 1966 geborene Christoph Peters angehören, werden im Dorfroman viel aus ihrer eigenen Kindheit wiedererkennen. Skippy, Lassie, das Ohnsorg-Theater – diese Reminiszenzen werden absolut organisch in den Roman eingefügt und verkommen nicht nur zu Versatzstücken. Durch den naiv-gläubigen Kinderblick, den der Autor wählt, und der wunderbar authentisch gelungen ist und eine sehr geschickte Perspektive, denn so kann der Autor die von heute aus gesehen sehr fragwürdigen Einstellungen seiner Eltern schildern, ohne sie bewerten zu müssen, erlebt man die von Angst, Ablehnung und Hass übersteigerten Meinungen über die Terroristen der RAF, die „Gammlern“, die „Langhaarigen“ und Religionslosen mit einem gewissen Amüsement, ist aber gleichzeitig erschrocken über die Rigidität der ideologischen Gewissheiten. Wie gespalten auch damals die bundesrepublikanische Gesellschaft war, wie hasserfüllt, wird greifbar. Die Spaltung des Dorfs verschärft sich im Laufe der Jahre mit dem Baufortschritt des Schnellen Brüters. Bauer Praats hat seinen Melkstall an junge Kernkraftgegner verpachtet, die dort eine ökologische Kommune gründen wollen und Proteste gegen das Kraftwerk organisieren. Die zweite Zeitebene des Romans führt in die frühen Achtziger. Das Alter-Ego des Autors ist mittlerweile fünfzehn. Und wenn er auch noch kindlich dem Traum, einmal Naturforscher wie seine Kindheitsidole Heinz Sielmann und Bernhard Grzimek werden zu wollen, nachhängt und mit dem Netz auf Schmetterlingsfang geht, brechen doch immer mehr Konflikte in der persönlichen Entwicklung mit den Überzeugungen seiner Eltern auf. Klar, Pubertät. Ausgerechnet in eine der Kommunenbewohnerinnen, die sieben Jahre ältere Juliane, verliebt sich der Junge. Das beschleunigt den Abnabelungsprozess, die Haare wachsen, die politischen Ansichten und auch die Einstellung zum Schnellen Brüter wandeln sich vehement. Das führt natürlich zu Problemen mit den Eltern. Und auch die Auseinandersetzungen um das Kernkraftwerk radikalisieren sich. Waren zu Beginn, 1974, nur einige Tausend Demonstranten vor Ort, zählte man 1977 bereits 40.000 Atomkraftgegner. Mit welcher Brutalität die Polizei da vorging, ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Mit der dritten Zeitebene in der Gegenwart beginnt und endet Christoph Peters seinen Dorfroman. Der Ich-Erzähler reist zum Pfingstfest zu seinen mittlerweile hochbetagten Eltern. Der 1985 fertiggestellte, aber auch angesichts der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl nie ans Netz gegangene Schnelle Brüter, ist mittlerweile zum Freizeitpark „Kernwasserwunderland“ transformiert und als Deutschlands größte Investitionsruine in die Geschichte eingegangen. Die bäuerliche Welt am Niederrhein ist längst untergegangen. Nur ein paar Großbauern haben überlebt und betreiben ihre Höfe nahezu industriell. In diesen Episoden herrscht ein nachdenklicher, melancholischer Ton vor, so wie Christoph Peters auch für die anderen Zeitebenen ganz eigenständige Tonarten gefunden hat. Der Erzähler lebt schon lange in Berlin, kehrt immer nur für kurze Stippvisiten ins elterliche Haus zurück. Doch was tun mit den alten Eltern, jetzt wo sich die Verantwortung fast umgekehrt hat? Hier wird das Buch zu einer Reflexion über das Vergehen der Zeit und die Veränderung der Welt. In alle drei Teile flicht der Autor wunderbare Landschaftsbilder aus der Niederrhein-Gegend ein. Christoph Peters ist mit Dorfroman ein ganz großartiges Buch gelungen. Kindheitsgeschichte, bundesrepublikanischer Epochenroman, zartbittere Liebesgeschichte, Eltern-Kind-Reflexion und – Dorfroman. Schon jetzt ein Höhepunkt im noch jungen Lesejahr. Ich mochte 1999 bereits Stadt Land Fluss von Christoph Peters sehr gerne, und frage mich, warum ich diesen herausragenden Autoren zwischenzeitlich so lange beiseitelassen konnte.

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