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Rezension zu
Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Spannende Gratwanderungen und interessante Blicke hinter die Kulissen...

Von: Susanne Probst
16.01.2021

„Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ ist der erste der beiden Erzählbände der renommierten russisch-jüdischen Autorin Clarice Lispector. Sie lässt den Leser mit ihren Erzählungen in die Tiefen des Alltags und der Innenwelten ihrer überwiegend weiblichen Figuren eintauchen. Wir begeben uns mit ihr auf eine Gratwanderung zwischen äußeren und inneren Realitäten und gelangen so von der einen auf die andere Ebene. Von der Oberfläche in die Tiefe. Hochinteressant ist das, und ein Lesevergnügen, das nachhallt! Aber nun möchte ich erst einmal einen Eindruck vom Inhalt der Geschichten geben, in denen es meist um Frauen und oft um Rebellion, Ausbruch, Befreiung und Loslösung aus rigiden Strukturen geht. In einer Art Schauergeschichte, die an einen nächtlichen Traum erinnert, umgibt uns eine eigentümliche, märchenhafte und fast unheimliche Atmosphäre. Drei Maskierte, ein Hahn, ein Stier und ein Ritter mit Teufelsmaske, kommen im Mondlicht an einem Garten vorbei und machen sich daran, Hyazinthen zu stehlen. Aber sie werden dabei beobachtet. In einer anderen Erzählung sucht Idalina einen Weg zwischen Vernunft und Leidenschaft. Luísa ringt um innere Stärke und Tuda will ein Leben ohne therapeutische Unterstützung führen. Dann lesen wir von einer Frau, die im Café sitzt und auf eine Verabredung wartet oder von Laura, die gerade eine Krise überwunden hat und zwanghaft für alles Listen anfertigt. Die sensible und labile Familienmutter Ana verliert den Boden unter den Füßen, nachdem sie einen blinden, Kaugummi kauenden Mann erblickt hat. Eine weitere Frau begleiten wir durch den Zoo und von einer anderen erfahren wir, dass sie sich von ihrer langweiligen Ehe verabschieden möchte. Vordergründig sind es alltägliche und unspektakuläre Geschichten, aber hinter den Kulissen stoßen wir auf brisante und spannende Details. Wir lesen in oft traumartigen, melancholischen und geheimnisvollen Geschichten, die nicht selten Bewusstseinsströmen, Assoziationsketten oder Tagträumen gleichen, von Verrücktem, Klugem, Beängstigendem, Mutigem und Verstörendem. Ein Plot im eigentlichen Sinn findet sich nie so wirklich, es sind eher Zustände und Momentaufnahmen, über die reflektiert wird. Die Sprache der Schriftstellerin hat etwas extrem klares, eindringliches, wahrhaftiges und zupackendes. Clarice Lispector schlängelt sich nicht vorbei, sie redet nicht drum herum, sie bringt alles auf den Punkt. Auf diese Weise erzählt sie sehr authentisch von der Vielschichtigkeit und Rätselhaftigkeit des Lebens und von der Konflikthaftigkeit und Widersprüchlichkeit der seelischen Vorgänge. Sie beleuchtet die Komplexität hinter der vermeintlichen Banalität. Mit starken Bildern, Metaphern und bildhaften Vergleichen brachte sie mich immer wieder zum Staunen. Aber nicht nur das. Trotz aller Tiefgründigkeit und Ernsthaftigkeit sparte sie nicht mit Komik und Humor. Nicht selten musste ich schmunzeln. Eine außergewöhnliche Schriftstellerin hat ein originelles, poetisches und tiefgründiges Werk mit 40 eigensinnigen, lebendigen und teilweise verstörenden Geschichten vorgelegt, die mit überraschenden und kuriosen Wendungen und schrägen Pointen aufwarten und sich flüssig und leicht lesen lassen. Clarice Lispector wurde 1920 in der Ukraine als Tochter einer jüdischen Familie geboren. 1977 starb sie als eine der bedeutendsten brasilianischen Schriftstellerinnen einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag an Krebs. Im Dezember 2020 wäre sie 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass erschienen ihre gesammelten Erzählungen erstmals auf Deutsch in zwei Bänden. Der zweite Band, „Aber es wird regnen“, wird definitiv bald von mir gelesen. Ich freue mich schon darauf!

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