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Rezension zu
Dort, wo die Zeit entsteht

Roman einer Selbstfindung

Von: Mario Keipert
30.12.2020

Dass die junge Frau, die es in Claudia Wengenroths Roman in die Berge verschlägt, Katharina heißt, erfahren wir erst recht spät. Überhaupt erfahren wir wenig aus dem Leben der Protagonistin: Ärztin ist sie, wahrscheinlich irgendwo im Tiefland, und ihrer Familie gehört eine Hütte in den Bergen, die nun für einige Tage "zwischen den Jahren" zum Fluchtpunkt für die junge Frau wird: Dort, wo die Zeit entsteht schildert laut Untertitel eine Selbstfindung. Warum also viel erzählen von dem Leben, das dem Geschehen, dem Finden, vorausgeht? Um weg zu sein und um nicht denken zu müssen, ist sie hergefahren. Damit sie nicht gefunden wird und alles aus dem Kopf bekommt, hat sie niemandem gesagt, wohin sie fährt. Das Jahr hat viel durcheinander gewirbelt. Trotz des merkwürdigen Stillstands in und zwischen den Lockdowns steckte es voller Bewegungen und Verwerfungen. In der Mitte des Jahres schöpften wir zehn Tage lang Kraft in den Bergen, genossen die Stille, den Weitblick und ließen uns von der Erhabenheit der Natur um uns herum bereitwillig an die Relativität all der Probleme erinnern, die uns im Alltag beschäftigten. Was liegt da näher, als, mitten im tiefsten Winter, Claudia Wengenroth bereitwillig in die Gegenwelt der Rauhnächte zu folgen? Dachte ich mir, schnappte mir das schmale Buch der praktizierenden Ärztin und – tat mich schwer. Sie fühlt sich verantwortlich, die Aufgabe ist klar, nur die Bedingungen, sie zu lösen, die kann sie nicht beeinflussen. Sie will die Dinge richtig machen. Die Regeln einhalten. Nur scheint es Regeln zu geben, die genau das verhindern. Das ist – neben einer Episode aus dem Arbeitsalltag – so ungefähr die konkreteste Beschreibung des Problems, das Katharina hat. Recht vage zwar, aber immerhin: Kenne ich. Geht mir auch oft so. Überfordert mich zuweilen. Weckt Fluchtimpulse. Die Sehnsucht nach etwas Wahrem, etwas Besserem, etwas, das sich richtig anfühlt und eigentlich ganz einfach sein müsste. Leider bleibt das Buch nicht nur bei der Problembeschreibung, sondern auch bei der Schilderung der Lösung im Vagen, Nebulösen. Claudia Wengenroth: Dort, wo die Zeit entsteht. Roman einer Selbstfindung. Diederichs 2020 Die Autorin schickt ihre Heldin in das Land der Kindheitsurlaube zurück, konfrontiert sie da aber weniger mit ihrem früheren Ich als vielmehr mit einer übermächtigen Natur, die durch alte Mythen und geheimnisvolle Geschichten śpricht. Da ist die alte Irmelin, die sich um die Hütte kümmert und der Fremden zunächst reserviert gegenübersteht. Im weiteren Verlauf der Erzählung haben dann ihren Auftritt: Ein Rabe. Ein Kaninchen. Die Berge. Die Winde. Ein Bergriese. Ein Waldzwerg. Und nicht zuletzt die Hütte selbst, die "wartet und beobachtet". Die Luft um sie herum ist voller als sonst, als würde nicht nur der Wald drohen, sondern als würde aus dem Nichts heraus etwas sie beobachten, nach ihr greifen. Mit jedem neuen Windstoß fährt sie zusammen, als hätte sie jemand tatsächlich berührt. Katharina lernt, ihrem Denken zu misstrauen. Erste Erkenntnis auf dem Weg der Selbstfindung, okay: "Kein Nachdenken, nur zusehen und fühlen. Das schien das Durcheinander zu ordnen, für den Moment." In einer Mischung aus David Lynchs Twin Peaks und Alice im Wunderland begibt sich Katharina auf die Pfade des Unbewussten und des Unverständlichen. Zweiter Schritt: Gib die Kontrolle auf. Öffne die Sinne. Gib dich in die Hand – ja, von wem? Der junge Wind sieht die Fragen der jungen Frau, die keine Fragen sind, sondern Entscheidungen wären, wenn sie sie denn erkennen würde. Wengenroths Erzählweise folgt Wort für Wort den Wahrnehmungen und (dann doch) den Gedanken der Protagonistin, die immer weniger Handelnde als vielmehr Wahrnehmende, Rätselnde ist. Ähnlich die Leser*in. Denn leider dreht sich die Sprache von Claudia Wengenroth zwischen zahlreichen Wortwiederholungen und teils unglücklichen Formulierungen in weiten Kreisen, das Erzähltempo immer weiter herunter kühlend. Umso mehr das Geschehen in mythische Sphären oder gar unter die Erde verlegt wird, umso mehr vermisse ich das Konkrete, das Einfache, ja, auch das Banale. Claudia Wengenroth entwickelt einen raunenden, mystischen und irgendwie sehr diffusen Ton, mit zahlreichen Handlungs- und Metaebenenen, dessen – ostentativ herausgearbeitete – Magie mir verschlossen blieb. "Du nimmst dir also vor, über etwas, das dich beschäftigt, nicht nachzudenken?" fragt das Kaninchen irgendwann. Und Katharina? Sie steht da und findet die Stille und das Nichtnachdenken und lächelt.

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