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Rezension zu
Was der Fluss erzählt

Der Fluss des Lebens

Von: Fräulein Julia
15.11.2020

Was ist Phantasie, was Wirklichkeit? In Diane Setterfields neuem Roman „Was der Fluss erzählt“ geht es nicht immer mit rechten Dingen zu. „Es war einmal ein Wirtshaus, das stand friedlich in Radcot am Ufer der Themse, etwa vierzig Meilen stromabwärts von der Quelle“ – so beginnt die Geschichte. Wir befinden uns im späten 19. Jahrhundert in einem kleinen Dörfchen in Südengland, in einem Gasthaus namens „Swan“. Wenn die Arbeit auf den Feldern und am Fluss getan ist, treffen sich die Männer dort auf ein oder zwei Krüge Bier; und sie erzählen sich mit Vorliebe Geschichten. Es ist also gefundenes Fressen für die phantasievolle Gemeinschaft, als eines Abends die schwere Holztür auffliegt und ein Mann im Türrahmen steht – im Arm ein kleines Mädchen, das offensichtlich nicht mehr lebt. Bevor er erklären kann, wer er ist und was passiert ist, fällt er in Ohnmacht. Und obwohl Rita, die im Dorf für alle medizinischen Angelegenheiten hinzugerufen wird, unmissverständlich den Tod des kleinen Mädchens feststellt: kurz darauf beginnt die Kleine wieder zu atmen und steht auf. Wie kann das sein? Wie es sich für einen echten viktorianischen Schmöker gehört – denn auch wenn das Buch in diesem Jahr geschrieben wurde, liest es sich teilweise, als käme es direkt aus dem 19. Jahrhundert – wird es eine Weile dauern, bis wir das erfahren. Zunächst holt der allwissende Erzähler, der sich gelegentlich direkt an die Leser*innen wendet, etwas aus, beschreibt die Ereignisse und Wege der wichtigsten beteiligten Personen, bevor das rätselhafte Kind in ihr Leben trat. Da sind die Armstrongs, deren ältester Sohn Robin ihnen immer wieder Sorgen bereitet; da ist die Heilerin und Hebamme Rita, die bei Nonnen aufwuchs und sich geschworen hat, niemals selbst ein Kind in die Welt zusetzen; da ist Lily, die in einem heruntergekommenen Cottage wohnt und sich selbst nichts gönnt; und da ist das Ehepaar Vaughan, dessen Tochter Amelia vor zwei Jahren entführt wurde und seitdem nicht wieder aufgetaucht ist. Könnte das fremde Mädchen diese Amelia sein? Diane Setterfield lässt die einzelnen Lebenswege nach und nach – wie einen Fluss und seine Nebenarme – ineinanderfließen: „Leach, Churn und Coln haben jeweils ihr eigenes Wegstück zurückgelegt, bevor sie in die Themse münden und deren Wassermassen anschwellen lassen. Genauso hatten die Vaughans und die Armstrongs und Lily White in den Jahren und Tagen, bevor sie sich in diese Erzählung einfügten, ihre je eigene Geschichte gehabt, und nun kommen wir an den Punkt, da sich ihre Wasserläufe vereinen.“ Sie alle erheben Ansprüche auf die Kleine: die Armstrongs vermuten in ihr Alice, ihre Enkeltochter, die sie noch nie kennengelernt haben. Für Mrs. Vaughan ist es ohne Zweifel Amelia und Lily White sieht in der Kleinen ihre Schwester Ann – was zumindest rein rechnerisch direkt auszuschließen ist, denn Lily ist bereits über Vierzig. Auf den folgenden knapp 600 Seiten wird das Rätsel nun von allen Seiten und aus vielfältiger Perspektive, atmosphärisch sehr anschaulich erzählt, angegangen. Das hat gelegentlich etwas von einem Schauerroman mit immer wieder anschwellender Spannungskurve, ohne dass das Geschehen jedoch sofort aufgeklärt wird – als Leser*in wirft man über weite Strecken seine eigenen Theorien in den Ring. „Weite Strecken“ ist auch ein Stichwort, denn: Diane Setterfield lässt sich sehr viel Zeit mit der Charakterisierung der Beteiligten (auch damit schreibt sie „viktorianisch“), sie baut immer weitere Nebenschauplätze auf und erzählt lang zurückliegende Ereignisse in einer satten und teilweise süffigen Sprache (ziemlich gut übersetzt von Anke & Eberhard Kreutzer), was dazu führt, dass die Aufmerksamkeit manchmal versickert wie ein schwacher Nebenarm der Themse. „Sie saßen am Ufer. Solche Geschichten erzählte man besser am Fluss als in einem geschlossenen Raum. Drinnen stauen sich Worte zwischen den vier Wänden an und lasten dann vielleicht zu schwer auf dem, was noch zu sagen wäre. Am Fluss hingegen nimmt die Luft die Geschichte mit auf eine Reise, ein Satz weht davon und macht Platz für den nächsten.“ Wenn wir letztendlich erfahren, um wen es sich bei dem zunächst toten und dann wieder lebenden Kind handelt, kommt das tatsächlich noch einmal einer Überraschung gleich. Was der Fluss erzählt ist ohne Frage ein ausgezeichnet konstruierter Roman, in den man für ein paar Stunden versinken kann; dem Spannungsbogen des Romans hätten aber ein paar Seiten weniger keinen Abbruch getan.

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