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Rezension zu
Flucht – Eine Menschheitsgeschichte

Flucht - das Trauma der Entwurzelung

Von: Eva Krafczyk
04.11.2020

Schon das Titelbild von Andreas Kosserts Buch "Flucht" zeigt, wie leicht sich der Leser bei der Einschätzung irren kann und wie allgemeingültig die Geschichte von Flüchtlingen ist: Der kleine Junge mit den kurzen Hosen, der auf zusammengeschnürten Gepäckstücken und Säcken hockt, ist nicht etwa ein Kind aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien im Jahr 1945, sondern ein junger Flüchtling "aus osteuropäischen Regionen" im Jahr 1949 - vielleicht aus der Westukraine oder der Wilnaer Gegend vor der Umsiedlung in die einstigen deutschen Ostgebiete, vielleicht ein Kind von "Displaced Persons", die nach dem Krieg in Deutschland feststeckten und entweder in ihre Heimatländer repatriiert wurden oder eine neue Zukunft in einem anderen Land suchten. Gemeinsam war und ist ihne: Sie sind entwurzelt, führen ein Leben im Wartestand, von den jeweils "Hiesigen", den Beheimateten oft misstrauisch beäugt, abgelehnt, angefeindet. "Eine Menschheitsgeschichte" hat der Autor sein Buch im Untertitel genannt und es ist der große Verdienst Kosserts, dass er den Blick nicht, wie das in der Vergangenheit viele deutsche Historiker in den Fernsehdokumentationen zur besten Sendezeit gemacht haben, allein auf das Schicksal der 14 Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg richtet, sondern auf das davor und danach. Etwa die gewaltsamen Umsiedlungen durch die Nationalsozialisten in den von Deutschland besetzten Gebieten, aber auch die erzwungenen Bevölkerungsverschiebungen in den einstigen polnischen Ostgebieten. Kossert hat am Deutschen Historischen Institut in Warschau gearbeitet, er schreibt für eine deutsche Leserschaft - insofern liegt durchaus ein Fokus auf dem Zwanzigsten Jahrhundert, auf Deutschland und seinen Nachbarstaaten. Doch stets werden Erfahrungen, Erinnerungen, Zitate von Flucht, von Unterwegssein und Ankommen anderer Flüchtling hinzugestellt, sei es von nordafrikanischen Juden, von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, von Griechen und Türken. Oft ist der Verweis auf Autor und Jahr des Zitats nötig, so ähneln sich bei allen unterschiedlichen historischen Rahmenbedingungen, trotz unterschiedlicher Religionen, Sprachen und Ethnien die Gefühle, die zum Ausdruck kommen, wenn Menschen gezwungen sind, mit dem Allernötigsten, oft ohne Zeit zum Abschiednehmen, in eine ungewisse Zukunft aufbrechen müssen. Eben waren sie noch Einwohner, Nachbarn, Bauern oder örtliche Unternehmer. Und plötzlich sind sie nur noch Flüchtlinge, aus dem Alltag, aus der Sicherheit und aus allem Gewohnten gefallen. Eine kleine, wiederkehrende Szene, die Flüchtlinge aus Palästina oder Ostpreußen, aus Kurdistan oder Kappadokien schildern, weckt Erinnerungen: Die Schlüssel der alten Wohnung, des einstigen Hauses, den viele Flüchtlinge mitnehmen, in der Hoffnung, dass es vielleicht doch mal ein Zurück gibt. Ein Schlüssel, wie er auch im Schrank meiner Großmutter lag und der an keine der Türen und Schränke passte. "Der ist von zu Hause", sagte sie. "Aus der alten Heimat." Eine neue hat sie, wie viele ihrer Generation, nie gefunden. Wer selbst eine Familie mit Fluchtbiografie hat, wer die Erzählungen von Eltern oder Großeltern kennt oder selbst die Erfahrung gemacht hat, mit einem "anderen" Namen, der "falschen" religiösen Zugehörigkeit, der Herkunft der Familie an einem Ort, an dem man selbst geboren wurde, als nicht dazugehörig betrachtet zu werden, der kennt vieles von dem, was in "Flucht" geschildert wird. Kossert räumt mit den lange gepflegten Schilderungen von der großherzigen Aufnahme der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland auf, er zeigt die Sprachlosigkeit, mit oft traumatisierenden Erinnerungen umgehen zu müssen, schildert, dass ähnlich wie in Familien von Holocaust-Überlebenden auch in Familien von Flüchtlingen die nachgeborenen Generationen oft einen Teil des psychologischen Erbes der Familiengeschichte mit sich herumschleppen. Ausführlich geht es auch um die Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber dem Schicksal entwurzelter Menschen. Die Willkommenskultur des Sommers 2015 - fünf Jahre später wissen wir, das war eine kurze Episode. Das Schicksal der Namenlosen, die Jahr für Jahr im Mittelmeer ertrinken, die Zustände in Moria oder in den Flüchtlingslagern in der Türkei kommen in den Sinn, wenn Kossert resümiert: "Flucht und Vertreibung als Geißel der Menschheit zu ächten, könnte bewirken, sie bereits im Entstehen zu unterbinden und ihre Ursachen zu bekämpfen, statt immer nur noch höhere Zäune und Mauern zu errichten. Am Umgang mit Flüchtlingen lässt sich ablesen, welche Welt wir anstreben. ... Flüchtlinge und das, was sie erleben und erleiden, führen uns vor Augen, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz ist. Sie verschieben die Sicht auf die Welt, weil sich mit jeder Fluchtgeschichte und jedem einzelnen Flüchtling die Frage stellt, wie fest wir wurzeln."

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