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Rezension zu
Der Garten meiner Mutter

Garten der Mutter

Von: LiteraturReich
22.07.2020

„All the lieves we never lived“ – der Originaltitel des neuen Romans der Autorin Anuradha Roy Der Garten meiner Mutter – trifft es mal wieder viel genauer. Es geht in dem poetischen, bildstarken Text um die vielen ungelebten Leben, die Möglichkeiten und Abzweigungen, die zu Beginn offenstehen, das Gelingen und das Scheitern, um Einsamkeit und Sehnsucht. 1992, im fiktiven Städtchen Muntazir in Nordindien. Zu Beginn erhält der Erzähler, der 64 jährige Myshkin Chand Rozario, einen dicken Luftpostumschlag aus Kanada. Er stammt aus dem Nachlass einer alten Freundin seiner Mutter. Da Myshkin ahnt, dass darin Erinnerungsstücke an sie enthalten sind, zögert er lange mit dem Öffnen. Denn die Erinnerung an seine Mutter ist schmerzvoll, da sie die Familie verließ, als ihr Sohn gerade einmal neun Jahre alt war. Dennoch kehren die Erinnerungen machtvoll zurück. „In meiner Kindheit war ich als er Junge bekannt, dessen Mutter mit einem Engländer durchgebrannt war. Der Mann war eigentlich Deutscher, aber in einer indischen Kleinstadt galten in jenen Tagen alle weißen Ausländer im Allgemeinen als Briten.“ Und auch mit dem „Durchbrennen“ seiner Mutter hat es sich anders verhalten, wie der Erzähler, als er sich endlich entschließt, den Umschlag, der Briefe und Tagebuchaufzeichnungen seiner Mutter enthält, zu öffnen, erfährt. Aber zunächst gehen seine Erinnerungen zurück in seine Kindheit und in die Geschichte seiner Familie. Deren „Stammvater“ Chai Rand kam über den Holzhandel zu viel Geld. Zusammen mit Frederick Wilson, der wie andere im Roman eine reale Person war, verkaufte er mächtige Himmalayazedern gerade in dem Moment, als die Briten zum Ausbau der Eisenbahn in ihrer Kolonie Holz ohne Ende benötigten. 1857 zog sich der Urgroßvater aus diesem Geschäft zurück und gründete eine lukrative Möbelschreinerei. Deren Stammhaus, das er nach seiner anglo-indischen Frau Lucille „Rozario & Sons nannte, wurde später zur Praxis seines Sohnes, der die Medizin zum Leidwesen des Vaters dem Holzhandel vorzog. Myshkin wurde von diesem Großvater, seinem Dada, nach dem gleichnamigen Fürsten aus Dostojewskis „Idiot“ benannt, weil er als Kind häufig an Fieberkrämpfen litt. Nach dem Weggang der Mutter wurde Bhavani Chand, genannt Batty, zur wichtigsten Bezugsperson für den kleinen verlassenen Jungen. Der Vater, ein Collegeprofessor, war eher unnachgiebig, politisch stark in der indischen Unabhängigkeitsbewegung engagiert und verschlossen in seinem Kummer, von seiner Frau verlassen worden zu sein. Die Mutter Gayatri ist natürlich der eigentliche Mittelpunkt des Romans. Liebling des Vaters, von diesem in jeder Hinsicht gefördert und schon als junges Mädchen auf ausgedehnte Reisen mitgenommen, lernt sie auf einer davon 1927 auf Bali den Maler und Musiker Walter Spies aus Deutschland kennen, der sie mit seinem kreativ-freiheitlichen Lebensstil fasziniert und sie dazu inspiriert, selbst Malerin zu werden. Berühmte Künstler, wie Charlie Chaplin, gingen bei ihm ein und aus. Auch er ist eine historische Person. Seit 1923 lebte Spies in Indonesien, zunächst auf Java, dann auf Bali, wo er während des Zweiten Weltkriegs als feindlicher Ausländer in Niederländisch-Indien interniert war. Seine Reise nach Indien mit der englischen Tänzerin und Orientalistin Beryl de Zoete, bei der er Gayatri wiedertraf, ist fiktiv. So ist Der Garten der Mutter von Anuradha Roy neben dem Erinnerungsbuch Myshkins auch eine Historical fiction, die das Leben von Walter Spies, den Unabhängigkeitskampf der Inder gegen die britische Kolonialmacht und die Vorgänge während des Zweiten Weltkriegs in Südasien thematisiert. Wir lesen viel über Leben und Kultur, über Musik und Kunst und über die Landschaften Indiens und Indonesiens. Das Buch ist auch reich an literarischen Anspielungen. So wird in Auszügen die Liebesgeschichte von Maitreyi Devi mit dem rumänischen Philosophen Mircea Eliade zitiert, von der auf Deutsch nur dessen Fassung „Das Mädchen Maitreyi“ vorliegt, auf die diese antwortete. Maitreyi Devi wurde wiederum vom bengalischen Dichter Rabindranath Tagore gefördert, der im Buch auch eine Rolle spielt. Über die hinterlassenen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen von Gayatri erfahren wir aber vor allem auch vom Kampf einer jungen, lebenshungrigen und begabten jungen Frau um Freiheit, Selbstbestimmung und künstlerische Selbstfindung, den sie nach der erzwungenen Heirat mit dem eigentlich liberalen Nek Chand doch immer wieder führen musste. Das Buch bleibt aber hier nicht stehen, sondern beleuchtet sensibel und empathisch die Folgen, die der Ausbruch Gayatris für die Zurückgebliebenen bedeutete. Für ihren kleinen Sohn Myshkin, für den Ehemann, den Schwiegervater, die Freundin. Aber natürlich auch für sie selbst. Dabei macht der Erzähler Myshkin kein Geheimnis daraus, dass seine Erinnerungen durchaus auch trügerisch sein können, zudem Briefe als Quelle auch nicht wirklich zuverlässig sind. „Erzählen wir die Geschichte eines Lebens und ganz besonders die des eigenen, können wir nicht so tun, als hätte sich alles tatsächlich so zugetragen. Unsere Erinnerungen sind Bilder, Gefühle und flüchtige Blicke, manchmal nur in umrissen. Zeit verfestigt sich und löst sich auf. Wir haben keine genauen Erinnerungen daran, wie lange etwas dauert: ein paar Tage, Wochen, einen Monat? Ganze Zeitspannen sind ohne jeden Inhalt, während andere im Nachhinein bedeutsam werden.“ Der Garten der Mutter von Anuradha Roy ist ein melancholisches, elegisches Buch geworden, was natürlich auch mit dem Erzähler, dem alleinstehenden, älter gewordenen Eigenbrötler Myshkin zu tun hat. Es scheint, dass er nach dem frühen Verlassenwerden niemals wieder Vertrauen in echte Bindungen setzen konnte, als staatlicher Gartenbauingenieur schaut er auf etliche gelungene Projekte zurück, letztendlich ist aber nur die Beziehung zur Halbschwester Ila von Dauer. Das Ende ist hoffnungsvoll. Myshkin, der wieder in seinem Elternhaus lebt, zusammen mit Ila, malt den Garten seiner Mutter und bricht auf, auf ihren Spuren, Richtung Bali. „Hatte sie bemerkt, dass das Schiff, während es sich seinen Pfad durch Schaum und Wellen schnitt, ständig seufzte?, hatte der große dichter meine Mutter auf ihrer ersten großen Reise nach Bali gefragt. Klang dieses nie endende Seufzen nicht so, als umspülten die Wasser des Ozeans die Erde mit Tränen der Trauer? Ich hörte das ungläubige, unhöfliche Jungmädchenlachen meiner mutter in meinen Ohren. Trauer was das Letzte, woran ein Mädchen dachte, das eine neue Welt bejubelte, eine Welt, die es malen wollte, jeden Teil von ihr. Ich wünschte mir, dass das Seufzen des Ozeans für sie auf all ihren Passagen seine Bedeutung nicht geändert hatte.“

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