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Rezension zu
Der von den Löwen träumte

Auf hoher See und auf Umwegen zum Erfolg

Von: Eva
20.04.2020

Eher durch Zufall ist mir vor drei Jahren „Der Stift und das Papier“ von Hanns-Josef Ortheil in die Hände gefallen. Danach stand fest: Ich mag die unaufgeregte Erzählweise des Autors, der es schafft, präzise und bildlich zu beschreiben, was außen um seine und innen in seinen Protagonist*innen vorgeht. So ist es nicht verwunderlich, dass ich auch an „Die Mittelmeerreise“ Gefallen gefunden habe – ein weiteres autobiographisches Werk aus Ortheils Feder. Das Buch im Buch: Hanns-Josef Ortheil schreibt über Ernest Hemingway Im nächsten Buch, „Der von den Löwen träumte“, geht es nicht um Ortheil selbst, aber doch wieder um einen Autor: Ernest Hemingway. Insofern dreht es sich zumindest wieder um das Schreiben. Ein Sujet, das sich wie ein roter Faden durch Ortheils Schaffen zieht. Wahrscheinlich kann sich der Deutsche ganz gut in den US-Amerikaner hineinversetzen. Vielleicht faszinieren ihn Hemingways Verstrickungen während dessen Venedig-Aufenthalts, die Suche nach neuem Material und – am Ende fließen tatsächlich zwei Werke aus Hemingways Feder: der Roman „Über den Fluss und in die Wälder“ und die Novelle „Der alte Mann und das Meer“. Beide könnten unterschiedlicher kaum sein. Doch auf Anfang! Ernest Hemingway in Venedig Wir schreiben das Jahr 1948. Ernest Hemingway kommt in Venedig an. Mit dabei: seine vierte Frau Mary. Der Autor befindet sich in einer Krise. Der nächste Bucherfolg lässt auf sich warten. Dass der Autor mehr den Bars als den Buchstaben frönt, ist kein Geheimnis. Trotzdem will er es noch einmal versuchen. Die Lagunenstadt liefert hoffentlich die nötige Ruhe und doch ausreichend Inspiration und Stoff für eine spannende Erzählung. „Ich schreibe immer an einem Buch, ich lebe nicht, ohne daran zu schreiben. Die Frage ist nur, ob es ein gutes Schreiben ist und ob ich es präzise genug höre.“ Der Reporter Sergio Carini befindet sich ebenfalls in einer Krise. Die Tageszeitung „Il Gazzettino“, für die er schreibt, erwartet eine gute Story. Man hat die anonyme Nachricht erhalten, dass der weltberühmte Autor Ernest Hemingway überraschend in der Stadt gelandet ist. Jetzt soll Carini liefern. Doch wie soll er dem Autor nahekommen, ohne sich dabei aufzudrängen, ihm auf die Pelle zu rücken? Geht er zu vorsichtig vor, geht ihm die Geschichte durch die Lappen. Ist er hingegen zu forsch, verliert er genauso. Wie soll er bloß das Vertrauen des US-Amerikaners gewinnen? Hier kommt Paolo ins Spiel, der Sohn von Sergio. Der junge, zurückhaltende Fischer schlägt schnell ein unsichtbares Band zu Hemingway. Dabei beginnt die Bekanntschaft mit einer ganz praktischen Übereinkunft: Paolo wird Hemingway durch die Kanäle der Stadt schippern und dem Autor den Blickwinkel eines Einheimischen offenbaren. Schließlich ist Hemingway, anders als Mary, nicht hier, um die Sehenswürdigkeiten von Venedig zu bewundern. Er möchte nicht die großen Plätze, sondern die kleinen Seitenstraßen kennenlernen. Dabei macht er auch die Bekanntschaft mit der jungen Adriana Ivancich – sehr zum Unmut von Mary. Doch Ortheil lässt uns eher zwischen den Zeilen lesen, dass hier zwei Hemingways auftreten. Die Facetten des Autors spiegeln seine innere Angespanntheit wider und zeigen, wie sehr der Autor sich von vorangegangenen Erfolgen in die Enge getrieben fühlt und doch gleichzeitig den Ruhm und Rummel um seine Person durchaus genießt. Damit wir als Leser*innen das sehen, brauchen wir Paolo und Adriana, die aus Hemingway, jede*r auf seine und ihre Weise, einen anderen machen. Die Gesichter und Geschichten von Ernest Hemingway Die deutlichste Beschreibung (irgendwann muss auch Ortheil mal beschreiben – er kann nicht immer nur zeigen) finden wir wohl auf S. 91: „Ein Wichtigtuer war er auf keinen Fall, den Angeber dagegen hatte er durchaus manchmal drauf, einfach deshalb, weil er schlichte Sätze zu so elenden Verhältnissen wie denen des Krieges nicht ertrug. Angeberei war ein Mittel, sich an Worten zu besaufen und den Krieg zu ersticken, man verlieh sich eigene, selbst gemachte Orden, und man führte sie aus, indem man die Umgebung herunterredete.“ Sympathisch kommt Hemingway nicht herüber. Aber seine widersprüchliche Person gibt guten Romanstoff her. Dabei überlässt es Ortheil den Leser*innen selbst, ob sie sich auf das Private oder Handwerkliche des Schriftstellers stürzen oder einfach beides aus dem Buch mitnehmen. Es bleibt offen, wie viel Ortheil von sich selbst in Hemingway legt, wenn er zum Beispiel schreibt: „[…] Ich kehre hier ein und dort, höchstens die Accademia werde ich vielleicht regelmäßig besuchen.“ „Warum ausgerechnet die?“ „Um jeweils ein einziges gutes Bild genau zu studieren. Präzises Sehtraining ist eine gute Vorübung für präzises Schreiben.“ Unweigerlich kommt mir dabei auch Thomas Bernhard in den Kopf, und sein Werk „Alte Meister“, das im Kunsthistorischen Museum in Wien spielt. Offenbar haben Autor*innen stets mindestens ein weiteres Steckenpferd neben dem Schreiben. Sie genießen ausgewählte Werke der Malerei oder Musikstücke oder beides. Schließlich steckt auch in den anderen Künsten die Essenz dessen, was sie zu Papier bringen wollen: ein Stück Leben, gefiltert durch die Betrachtungsweise eines anderen oder einer anderen. Dem Lesen verweigern sich dennoch viele Autor*innen. Auch Bernhard war dafür bekannt, nichts von dem, was normalerweise unter „Literatur“ fällt, gerne zu lesen. Belletristik? Lieber nicht. Stattdessen las er lieber dicke Wälzer und Monumentalwerke von Philosophen, ich denke, als eine Art von Gehirnjogging. Ihm wäre es jedoch nicht eingefallen, ja, bestimmt auch aus einer gewissen Angeberei heraus, in anderen Werken zeitgenössischer Literatur zu blättern, geschweige denn sie zu lesen. Ein anderer Grund, sowohl für Bernhard als auch für Hemingway: Beide waren sehr in ihrem eigenen Gedankengebäude gefangen. Richard Cantwell, die Hauptfigur für den 1950 erscheinenden Roman, reflektiert das ganz gut. „Als solcher [Colonel der Infanterie in der amerikanischen Armee] hatte er den Krieg hinter sich, aber der Krieg steckte noch in ihm, und erinnerte sich jeden Tag an das, was er Furchtbares erlebt hatte. Wenn es stark in ihm aufstieg, begann er zu trinken, dann wurde es besser, und der Alkohol lenkte ihn an.“ Man begibt sich bei einer Rezension stets auf dünnes Eis, wenn Figuren aus dem Buch mit den Schreibenden gleichgesetzt werden, aber zumindest auf die Parallelen darf man ja doch hinweisen. Ernest Hemingway war Reporter und Kriegsberichterstatter während des Ersten Weltkrieges, aber eben nicht nur das. Ein kurzer Blick auf Wikipedia allein verrät: „zugleich Abenteurer, Hochseefischer und Großwildjäger, was sich in seinem Werk niederschlägt.“ In der Retrospektive lässt sich über die zwei Bücher sagen, für deren Plot die Venedigreise den Anstoß gegeben hat: Nur eins der Bücher wird positiv von Kritiker*innen aufgenommen. Und es ist nicht der Roman über den alternden Colonel, der mit der jungen Adriana eine (platonische) Beziehung eingeht, sondern die Novelle über den Fischer. Hier lässt Ortheil Paolo zu Wort kommen, warum er der Geschichte mit dem Colonel einen ganz anderen Plot geben würde, warum er auf Fischfang gehen solle: „Weil Fischen das Schönste, Beruhigendste und Beste für ihn ist. Es gewöhnt ihn wieder an die Natur. Es lässt ihm Zeit, sein Seelenheil wieder zu finden.“ – „Sein Seelenheil? Was soll das sein?“ – „Du weißt genau, was ich meine, frag nicht so scheinheilig. Es geht um das Seelenheil, um nichts anderes, und ein so schwierig wiederzufindendes Glück erwirbt man nicht dadurch, dass man mit jungen Frauen durch die Bars von Venedig flaniert.“ – „Sondern?!“ – „Sondern, indem man weit hinausfährt aufs Meer, weit weg von den Bars, weit weg vom Alkohol und den anderen Spielereien, mit denen man Menschen den Kopf verdreht.“ Und 1952 erscheint dann auch die Novelle über den Fischer, der am Ende aber doch nur das blanke Skelett eines riesigen Marlins mit in den Hafen bringt. Den Rest haben die Haie auf See gefressen. Die Geschichte „Der alte Mann und das Meer“ stellt Hemingway nicht mehr in Venedig fertig, aber er übermittelt nach Veröffentlichung ein Exemplar an Paolo – mit persönlicher Widmung: „Für Paolo – in Dankbarkeit und Freundschaft – von dem alten Mann, der sich aufs Meer hinausgewagt hat.“

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