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Rezension zu
Nachttiger

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Bestes Lesefutter mit Niveau

Von: daslesendesatzzeichen
03.04.2020

In Zeiten wie diesen, in denen nie Dagewesenes geschieht und unser Bewegungsradius eingeschränkt ist, wie wir es noch nie erlebt haben, rückt das gute, alte Lesen wieder sehr stark in den Vordergrund. Denn auf keine vergleichbare Weise kann man derart tief in andere Welten eintauchen – und das nicht nur für 90 Minuten wie bei einem Film – und alles um sich herum vergessen. Genau das passiert auch bei dem wunderbaren Buch „Nachttiger“ von Yangsze Choo. Das Buch ist ihr zweiter Roman, aber der erste, der auch in Deutschland erscheint. Für mich ist Yangsze Choo eine grandiose Entdeckung und eine Bereicherung des Literaturhimmels. „Nachttiger“ hat mich über die visuelle Schiene gepackt – beim Durchblättern der Verlagsvorschauen sprang mir dieses bezaubernde Cover ins Auge und ich musste wissen, um was es geht. Als auch die U4 gut klang, war klar: Das will ich! Wir befinden uns im Britisch-Malaya der 1930er-Jahre. Der alte Doktor MacFarlane liegt im Sterben und er hat nur noch einen großen Wunsch, den er seinem chinesischen Houseboy Ren zuflüstert: Er solle seinen amputierten kleinen Finger wiederfinden und dann zu ihm ins Grab legen. Dafür hat der Junge laut örtlichem Aberglauben genau 49 Tage Zeit – so lange befindet sich nämlich die Seele noch in einem Zwischenstadium; um zur Ruhe kommen zu können, muss der Körper des Toten unversehrt sein. Der Arzt stirbt, die Uhr tickt. Der kleine Ren gibt sich für 13 aus, ist in Wirklichkeit aber gerade mal 11 Jahre alt. Seine Eltern sind tot und vor ein paar Jahren musste er auch noch seinen Zwillingsbruder Yi ins Reich der Toten gehen lassen. War es ein Tiger, der nachts kam und ihn tötete? War es ein Unfall? Die beiden hatten auf alle Fälle von jeher einen übernatürlichen Draht zueinander und zu ihrer Umgebung. Wo sie zusammen auftraten, konnten sie Geschehnisse fühlen, bevor sie passierten, Gefahren erspüren. Doch seit seine zweite Hälfte tot ist, hat Ren dieses Gefühl nicht mehr – oder nur noch in seinen Träumen, wenn er seinen Zwillingsbruder wiedersieht. Dafür geschehen ihm auffallend oft Missgeschicke, die ihn des Öfteren fast sein Leben kosten. Ren macht sich nun mutterseelenalleine auf den Weg, alles was er hat, ist die Adresse eines Doktors, dem er einen Brief des Toten übergeben soll. Zeitgleich lernt der Leser das Mädchen Ji Lin kennen, das in Ipoh eine Ausbildung zur Schneiderin macht, obwohl es viel lieber Medizin studiert hätte, und das nebenbei noch in einer Tanzhalle arbeitet, um die Spielschulden seiner Mutter zu tilgen. Ji Lins Stiefbruder Shin hat das große Los gezogen und darf als Junge die medizinische Laufbahn einschlagen, von der Ji Lin immer geträumt hat. Switch zum anderen Setting: Als Ren eines Abends völlig erschöpft endlich bei dem jungen britischen Arzt William Acton ankommt, bietet ihm dieser nach Lektüre des überbrachten Briefes eine Anstellung als Hausdiener in seinem Hause an. Die erste Etappe seiner Reise hat der kleine Junge also erfolgreich gemeistert. Doch nun weiß er beim besten Willen nicht weiter: Woher soll er wissen, wo sich dieser kleine amputierte Finger befindet und wie er ihn finden soll? Zur selben Zeit in einer anderen Stadt muss Ji Lin mit einem besonders unangenehmen Gast in der Tanzhalle Tangoschritte üben. Bei einem besonders ungeschickten Versuch des wenig begabten Tänzers, eine Tangofigur auszuführen, verheddert sich Ji Lin in dessen Tasche und kriegt etwas Komisches zu fassen. Aus Angst, als Taschendiebin beschuldigt zu werden, steckt sie das Etwas in ihre Tasche, sagt nichts und schaut sich ihren Zufallsfund in einer ruhigen Minute an: Es ist ein kleines Glasfläschchen mit einem schaurigen Inhalt: Ein amputierter kleiner Finger. Wenige Tage später findet Ji Lin heraus, dass der unbegabte Tänzer verstorben ist. Und seit sie im Besitz des Fingers ist, fühlt sie sich wiederum seltsam verfolgt … Ist das Zufall oder gibt es hier höhere Mächte, die die Fäden ziehen? Als Ji Lin zur Beerdigung fahren will, um den Finger dort am Grab abzulegen, schließt sich ihr ihr Stiefbruder Shin an und so schliddern sie gemeinsam in ein Abenteuer, das sie beide nicht erahnen konnten. Auf äußerst raffinierte Weise entspinnt Yangsze Choo verschiedene Fäden einer Geschichte und verwebt sie äußerst kunstvoll miteinander. Personen werden wie von fremder Hand geleitet und ihre Wege kreuzen sich deswegen – und diese Begegnungen wiederum verändern ihrer aller Leben. Die Namen der wichtigsten Protagonisten im Roman zeigen auf einer Metaebene zusätzlich, dass hier Personen zusammengehören, auch wenn sie es zu Beginn noch gar nicht wissen, da sie einander noch nicht einmal kennen. So steht „Ji“ für Weisheit, eine der fünf konfuzianischen Tugenden. Die restlichen lauten Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Sittlichkeit und Aufrichtigkeit. Als alle fünf Tugenden in Form von Menschen an einem Ort aufeinandertreffen, kann das Rätsel um den amputierten Finger endlich gelöst werden. Dieses Buch entspinnt ab der ersten Seite einen magischen Zauber. Dieser wird geschickt und gekonnt mit Spannungselementen einer kriminalistischen Geschichte kombiniert, dem Allen wird als Sahnehäubchen noch eine unerwartete Liebesgeschichte oben aufgesetzt und so liegt uns hier ein perfektes Buch vor, das uns Leser für viele Stunden in eine andere Welt entführt. Mein Überraschungsliebling 2020 bislang! Ganz allerdringendste Lesepflicht!

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