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Rezension zu
Im Unterland

Macfarlanes Inferno

Von: C. Widmann
17.03.2020

Lieber Leser, Robert MacFarlane steigt tief hinunter. Bei sich trägt er zweierlei: eine Eule aus Walknochen, die ihn schützen soll; ein bronzenes Kästchen, das er vergraben soll an der tiefsten Stelle, damit es für immer unten bleibt. Mit diesen beiden im Gepäck und mit uns steigt er in Karsthöhlen, klettert durch die Katakomben von Paris, fährt mit dem Aufzug in ein Bergwerk hinunter, besucht spaltendurchzogene Gletscher. Er geht nicht allein. Macfarlane schreibt über Orte, aber vor allem über Menschen: Höhlenkletterer, die letzten Entdecker, die ihre Landkarten selber zeichen müssen. Kataphile und Urban Explorer, der Autor darf uns ihre Namen nicht verraten, steigen über Zäune und brechen Gesetze, um hinunter zu kommen unter die Stadt. Ein Bergwerksarbeiter rast durch die Stollen, dass der Jeep abhebt. Ein Fischer nimmt Robert Macfarlane mit hinaus aufs Meer und erzählt von seinem Kampf gegen die Ölfirmen, die dort ins Unterland bohren wollen. Tief in einem Salzstollen erklärt ein Forscher, wie er Neutrinos sehen kann im absoluten Dunkel. Der Autor lässt sie erzählen. Selbst wechselt er ab zwischen seinen Reisen, seinen Gefühlen, den Geschichten seiner Gesprächspartner und ein paar Sachbuch-Absätzen über die Orte, die wir besuchen. Oft müssen wir Leser zwei Gedankengänge gleichzeitig im Kopf behalten und uns darauf verlassen, dass Macfarlane den roten Faden wieder aufnehmen wird. Sprache und Blick sind die eines Dichters. Er überrascht mit Vergleichen, zitiert Bücher, sieht die schönen und die furchtbaren Seiten des Unterlands. Macfarlane erzählt von Höhlenkletterern, die stecken geblieben sind, und von Tauchern, die nur noch tot zurück ans Licht kamen. Manche freilich müssen drunten sterben. Höhlen als Gräber, als Hinrichtungsstätten, aber auch als Verstecke, aus denen Menschen zurück nach oben kamen, als die Gefahr vorüber war. Ein Wissenschaftler ist Robert Macfarlane nicht. Das sagt ihm ein Glaziologe ins Gesicht. Man merkt es auch, wenn er trauert um die schmelzenden Gletscher in Grönland. Der Autor scheint zu glauben, diese Gletscher wären alle über 100.000 Jahre alt, und die Robbenjäger der wenigen Siedlungen auf der Insel verlören gerade eine jahrtausendealte Kultur. Die Geschichte Grönlands hat er nicht nachgeschlagen. Die Küstengletscher, die sich heute zurückziehen, sind kaum 500 Jahre alt. Im Mittelalter war es warm genug, dass Wikinger auf Grönland siedelten und Kühe hielten. Die Inuit kamen erst, als es kalt wurde in der Kleinen Eiszeit. Ein Schreckenswort wiederholt der Autor immer wieder: Anthropozän, das Zeitalter der Menschen, das Zeitalter von Plastik am Strand und Atommüll unter der Erde. Seitenlang erschaudert Macfarlane über ein kommendes Artensterben, ohne jemals eine Art zu erwähnen, die ausgestorben wäre. Ihm entgeht die Ironie, dass er auf einem Boot mit tuckerndem Dieselmotor mit Bjornar Nicolaisen spricht, einem Gegner neuer Ölbohrungen vor Norwegen. Ihm entgeht die anderen Waagschale: Das, was wir kaufen mit dem Öl und den Atomkraftwerken. Robert Macfarlane wird mit einiger Wahrscheinlichkeit länger leben als alle seine Vorfahren. Er kann Orte besuchen, die keiner von ihnen gesehen hat, und auf einem Computer ein Buch darüber tippen. Noch nie hatten so viele Menschen wie heute die Zeit und das Geld, es zu lesen. Ich empfehle Im Unterland als fesselnden Ausflug in entlegene Regionen. Nur darf man sich nicht anstecken lassen von Robert Macfarlanes masochistisch-scheinheiligen Schuldgefühlen. Hochachtungsvoll Christina Widmann de Fran

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