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Rezension zu
Willkommen in Lake Success

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

"Willkommen in Lake Success" von Gary Shteyngart

Von: Fraggle
06.01.2020

Fazit: Werden Männer mit einem großen Problem konfrontiert, so handeln sie meiner Erfahrung nach zur Lösung dieses Problems auf eine von drei unterschiedlichen Arten: Die einen gehen kurz weg, ziehen sich sozusagen in ihre sinnbildliche Höhle mit sich selbst zurück, denken intensiv über das Problem nach und kommen kurz darauf mit der aus ihrer Sicht besten Lösung zurück. Die nächsten gehen weg, kommen irgendwann wieder und hoffen, dass sich das Problem in der Zwischenzeit von selbst erledigt hat oder aber von anderen gelöst wurde. Und die letzten gehen einfach weg. Punkt. Gary Shteyngarts Protagonist Barry Cohen gehört eindeutig zur letzten Gruppe. Cohen ist Hedgefondsmanager, schwer reich, irgendwo so im oberen zwei- bis niedrigen dreistelligen Millionenbereich und verheiratet mit der umwerfend schönen und deutlich jüngeren Seema. Dass sich beide eigentlich nicht mehr lieben, das könnte Barry wohl noch verschmerzen. Aber da wäre ja noch Shiva, Seemas und Barrys Sohn. Shiva ist Autist. Und damit wiederum kann Barry so gar nichts anfangen. Und da ihm praktischerweise sowieso gerade das FBI bzw. die Steuerfahnung im Nacken sitzt, macht sich Barry aus dem Staub. Er besteigt einen Greyhound-Bus und fährt quer durch die Vereinigten Staaten auf der Suche nach seiner Jugendliebe, um mit ihr ein Leben zu leben, das ihm bislang verwehrt blieb. Hach, was könnte ich alles über diesen wunderbaren Roman schreiben. Ich versuche dennoch, mich mal auf das minimal Notwendige zu beschränken, das dürfte schon genug sein … Shteyngart lässt seinen Roman hauptsächlich im letzen Vor-Trump-Sommer spielen. Dabei werden die Ereignisse kapitelweise abwechselnd aus Barrys und Seemas Sicht erzählt. Vor dem Hintergrund dieses Handlungsrahmens ist „Willkommen in Lake Success“ nicht nur die Schilderung einer Reise, sondern immer auch der Versuch, sich dem Phänomen Trump und der Denkweise seiner Wählerschaft zu nähern, auch wenn dieser Aspekt des Romans sich wohltuend im Hintergrund abspielt. Und die Skurrilitäten, mit denen Barry sich auf seiner Reise konfrontiert sieht, beispielsweise, als er mit dem Gedanken spielt, das „Geschäft“ eines jungen Drogendealers auf Vordermann zu bringen und so etwas wie dessen Mentor zu werden – dieses Motiv des verhinderten Mentors findet sich im Laufe des Romans immer wieder -, diese Skurrilitäten zu lesen, macht großen Spaß. Mit oft witzig-ironischem Ton begleitet Shteyngart seinen Protagonisten von der traurigen Gestalt und stellt ihn genau als die Wurst dar, die er auch ist, aber dazu später. Eben dieser Ton ist es auch, der maßgeblich dazu beiträgt, „Willkommen in Lake Success“ zu einem locker-flockigen Leseerlebnis zu machen, auch wenn die Geschichte selbst phasenweise alles andere als locker-flockig ist. Ob man mit diesem Roman seine Freude haben kann oder nicht, hängt meiner Meinung nach primär davon ab, inwiefern man bei der Lektüre seinen Wunsch beherrschen kann, Barry Cohen den Hals umzudrehen, ob man in der Lage ist, sich von diesem, mit Verlaub, Arschloch nicht das Buch versauen zu lassen. Für seinen Protagonisten hat der Autor harmlose Anleihen bei sich selbst gemacht, in Form eines ähnlich klingenden Vornamens, der jüdischen Herkunft und der ausufernden Leidenschaft für teure Armbanduhren, angeblich besitzt Shteyngart selbst eine ganze Sammlung davon. Nun, wems gefällt … Ansonsten besteht Barry Cohen aus in etwa drei realen Vorlagen, Hedgefondsmanager, mit denen der Autor zum Zwecke der Recherche seine Zeit verbracht hat bzw. verbringen musste. In Summe kommt dabei ein veritabler Kotzbrocken heraus. Auffallend dabei ist die Diskrepanz zwischen Cohens Eigenwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung durch andere. Tatsächlich hält er sich für einen guten Menschen, hat viele „gute“ Ideen, wie man unterprivilegierten Menschen weiterhelfen kann, so beispielsweise, indem man „Milliardärssammelkarten“ für arme Kinder herausbringt, um vorzugsweise schwarze Jugendliche in der Schule anzuspornen, es genau so weit zu bringen … Darüber hinaus ist Cohen, wen wundert es, begeisterter Anhänger des (nicht funktionierenden) trickle-down-Effektes, sieht eigentlich keine Notwendigkeit Steuern zu bezahlen – mutmaßlich, weil ihm nicht klar ist, was davon eigentlich so bezahlt werden muss – und hält alles unterhalb von utopischem Wirtschaftsliberalismus für Sozialismus. Das alles wäre ja noch gar kein Problem und man könnte diese Verhaltensweisen seinem Umfeld und seiner Herkunft zuschreiben. Da wäre aber ja noch das „Problem“ Shiva. Sein Sohn, den Shteyngart selbst an einer Stelle als „nicht funktionierendes“ Kind bezeichnet, so als rede er da von einer seiner Armbanduhren. Und den er, da er nicht im Geringsten weiß, wie er mit ihm umgehen soll, einfach verlässt. Und lange Zeit ist Seema, Shivas Mutter, Barry Frau, nicht besser. So behalten sie Shivas Autismus in einer Art „Was-sollen-die-Nachbarn-denken?“-Reaktion für sich, nennen das Kind – also, den Autismus, nicht Shiva selbst – nicht einmal beim Namen, sondern sagen immer nur dass der Junge „im Spektrum“ liegt. Diese Art des Umgangs mit Shivas Einschränkung war der Part des Buches, der mit am meisten zugesetzt hat. Dabei versteht es Shteyngart, sich mit dem Thema Autismus nicht oberflächlich „weil halt“ auseinanderzusetzten, sondern geht hier durchaus in die Tiefe. Es ist eine Sache, dass Barry nicht genau weiß, wie er mit Shiva umgehen soll. Es ist aber eine ganz andere, dass er es gar nicht erst versucht! Das alleine macht ihn neben all seinen sonstigen Unzulänglichkeiten schon zu einem Drecksack, wie man ihm nur selten begegnet. Und zu einer ganz großartigen Hauptfigur, denn Barry ist wirklich richtig gut gelungen! Nur mögen kann man ihn halt nicht. Aber den Roman insgesamt, den kann man mögen. Muss man wahrscheinlich sogar. Von mir gibt es daher eine ganz klare Leseempfehlung.

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