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Rezension zu
Unter Briten

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Hübscher Staubsauger

Von: Schreibplanet
05.07.2019

Um den Brexit geht es sowieso immer. Oft auch um seine Haare. Meist auch um seine politischen Ambitionen. Und die Frage: Ist er fähig? Texte über Boris Johnson sind in deutschsprachigen Medien gegenwärtig allgegenwärtig. Tiefgang haben sie selten. Die Texte – zu diesem Schluss könnte man gelangen – sind wie er selber: oberflächlich. Boris, der Provokateur. Das Grossmaul. Der Politclown. Doch dieser Mann kann auch anders. Das zeigte der Spiegel-Journalist Christoph Scheuermann (kurz vor dem Brexit-Entscheid vom Sommer 2016) in seinem Buch Unter Briten. Die Verlagsgruppe Random House hat mir dieses Buch freundlicherweise zur Verfügung gestellt, um es zu lesen, zu kommentieren – und somit Werbung zu machen, idealerweise gute. Ich sollte zum Influencertum schreiten. Selbstredend: Ich habe das Buch die ganze Zeit liegen gelassen. Jetzt aber habe ich es im Wohnzimmer entdeckt, im Büchergestell, in der Ecke für weissbeumschlagte Bücher. Ich ordne das Zeug nach Farben, weil mir A bis Z immer suspekt war. Weil mich schon allein die Schreibweise von Alfabeth überphordert. Ich habe also das Buch durchgeblättert, wie man ein Telefonbuch durchblätterte, als es das noch gab, Telefonbücher: Mit drei, vier oder fünf Fingern viele hundert Seiten am Rand fest anpacken, durchbiegen und das Papier unter dem Daumen wegknistern lassen. Knistern ist das falsche Verb, um das Geräusch zu beschreiben – dessen bin ich mir bewusst. Alternativ könnte man es mit einem Babyfurz zu vergleichen, das Geräusch. Während dieses hörbaren Umblättervorgangs blieb mein Blick kurz auf Seite 177 haften, weil dort Boris auf einem Mäuerlein schneidersitzt, dahinter ein Fluss, bestimmt die Themse, war Boris doch damals, als das Foto den Weg in dieses Buch fand, noch Stadtpräsident Londons. Oder Bürgermeister. Rund um das Bild herum, auf den Seiten 175 bis 185, erzählt Autor Scheuermann, was Boris ihm alles erzählte, als die beiden mal zusammen in London U-Bahn fuhren. (Boris ein paar Stunden später zu Scheuermann: «Tut mir wirklich leid für heute Morgen. Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen.») Und siehe da. Das Porträt dieses Boris klingt ganz anders: Johnson spricht über seine Bewunderung für einen politischen Text aus dem antiken Griechenland (Perikles‘ Epitaphios), weil darin ein Demokratieverständnis beschrieben werde, das Leistung höher gewichte als die soziale Stellung, höher als Reichtum. Das habe Johnson an der U-Bahn-Station Finchley Road gesagt, protokolliert sein Interviewer. U-Bahn-Station Euston Square: Boris erzählt selbstkritisch, was er als Stadtpräsident nicht realisiert hat: mehr Wohnungen. Den Wohnungsmangel zu beheben. Ein lösbares Problem? Johnson schüttelt den Kopf. «Glaube nicht.» U-Bahn-Station Harrow-on-the-Hill: Boris, von unseren Medien oft als aufmerksamkeitssüchtig beschrieben, ignoriert sein klingelndes Handy – der Grund: Die angezeigte Telefonnummer kennt er nicht. Zwischen den Stationen Hillingdon und Ickenham kritisiert Boris die EU-Bürokratie in Brüssel (wie er es früher als Journalist und Korrespondent getan hat). «Kennen Sie James Dyson?», fragt Johnson. «Ein Brite, baut hübsche Staubsauger. Irgendwann kam Brüssel mit einem Vorschlag um die Ecke – kein Vorschlag, eine Verordnung! – und das Ende vom Lied war, dass britische Staubsauger angeblich zu stark seien. Sie müssten gedrosselt werden, hiess es.» Johnson, der Stadtpräsident, gibt ein Interview in der U-Bahn. Kein Berater anwesend, kein Leibwächter. Platziert Pointen, auch zweideutige. Spricht über den Peloponnesischen Krieg, über Handelsbarrieren für britische Produkte. Über den Kapitalismus, über britische Skilehrer. Über elektronische Parlamentsabstimmungen, über Schottlands Unabhängigkeitsbestrebungen. Über Rugby, über Facebook. Johnson wird als Mensch dargestellt. Als eigenartiger, aber schlauer Mensch. Als Mensch mit einer gewissen Penetranz, aber auch mit Charme. Für einmal nicht als Frisur mit einem seltsamen Menschen untendran. Vielleicht liegt es daran, dass Boris seine Haare unter einer Mütze versteckt hatte, um in der U-Bahn nicht erkannt zu werden. Um sich, gemäss Scheuermann, in den Durchschnittspassagier Mr. Johnson zu verwandeln. Scheuermann nennt die Mütze eine Tarnkappe. Christoph Scheuermann: Unter Briten. Begegnungen mit einem unbegreiflichen Volk. Spiegel-Buchverlag, 2016.

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