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Rezension zu
Gott wohnt im Wedding

Vom Nationalsozialismus bis zur Gentrifizierung: Geschichte(n) eines Berliner Hauses

Von: Buchfundbüro
11.06.2019

In ihrem zweiten Roman „Gott wohnt im Wedding“ erzählt Regina Scheer die Geschichte eines hundert Jahre alten Berliner Mietshauses. Dabei taucht sie tief in die Familiengeschichten seiner Bewohner ein – und wendet sich vor allem auch den verschiedenen Entortungs- und Vertreibungserfahrungen zu, die deren Biografien prägen. Tragische Geschichten und bewegte Schicksale sind es, die sich seit der Grundsteinlegung im Jahr 1890 hinter den Mauern des Mehrfamilienhauses in der Utrechter Straße abgespielt haben. Um diesen auf den Grund zu gehen, zeichnet Scheer nicht nur die Lebensläufe verschiedener Mieter nach, sondern lässt auch das Haus selbst zu Wort kommen, das mehr als bloßer Schauplatz sein will: „Die meisten denken, ein Haus sei nichts als Stein und Mörtel, totes Material. Aber sie vergessen, dass in meinen Wänden der Atem von all denen hängt, die hier gewohnt haben.“ Einer von ihnen ist Leo Lehmann. Geboren und aufgewachsen im Wedding, hat er den Großteil seines Lebens in Israel verbracht, wohin er – dessen gesamte jüdische Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde – Ende der 1940er Jahre ausgewandert ist. Als er im Alter von 94 Jahren wegen einer Erbschaftsangelegenheit erstmals zurück in seine Geburtsstadt kehrt, ist dies für ihn vor allem auch eine Reise in eine traumatische Vergangenheit. Während er durch die Berliner Straßen streift, werden die dunklen Erinnerungen an eine Zeit voller Bedrohungen wieder lebendig: Die antisemitischen Anfeindungen, denen er hier ausgesetzt war, seine Verpflichtung zur Zwangsarbeit, die Deportation seiner Eltern und die darauf folgenden Monate, die er gemeinsam mit seinem Freund Manfred als sogenanntes ,U-Boot' im Untergrund verbrachte. Das Haus im Wedding nimmt dabei in Leos Erinnerungen einen besonderen Platz ein: Hier fanden Leo und Manfred für einige Wochen Unterschlupf bei der gleichaltrigen Gertrud Romberg – bis Manfred schließlich in ihrer Wohnung von der Gestapo verhaftet wurde. Aber handelte es sich bei der hilfsbereiten jungen Frau wirklich um einen Nazi-Spitzel? Oder gibt es am Ende vielleicht mehr als die eine Wahrheit, die Leo zu kennen glaubt? Als Leo Jahrzehnte später wieder vor eben jenem schicksalhaften Gebäude steht, ahnt er noch nicht, dass das Schicksal ihn und Gertrud ein zweites Mal zusammenführen wird. Tatsächlich hat die betagte Seniorin das Haus ihrer Kindheit nie verlassen und wohnt noch immer in den gleichen vier Wänden. Dass sie ihr gesamtes Leben an einem Ort verbracht hat, macht sie dabei unter den Mietern zu einer echten Ausnahmeerscheinung. Weit entfernt von einem sesshaften Leben sind es Flucht, Vertreibung und Migration, die die Biografien der restlichen Bewohner prägen, die überwiegend aus Osteuropa stammen und nun im Wedding – wenn auch unter zum Teil prekären Umständen – ein Dach über dem Kopf gefunden haben. Zu ihnen zählt auch Laila Fiedler, eine Sintiza, die zu Beginn der 1990er Jahre gemeinsam mit der Mutter als sogenannte Spätaussiedlerin von Polen nach Berlin kam. Mit Deutschland ist Laila dabei seit je her auf ambivalente Weise verbunden: Auch ihre Großeltern haben einst hier gelebt, bis sie von den Nazis ins KZ Auschwitz deportiert wurden. Mit den Einblicken in Lailas weitverzweigte, von mehrfachen Gewalterfahrungen geprägte Familiengeschichte, wendet sich Scheer dabei einem von der Literatur bisher noch kaum bearbeitetem Thema zu: Über die sich kreuzenden Lebenswege von Leo und Laila stellt sie so eine Verbindung her zwischen den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus und der – in der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Terror lange nur am Rande thematisierten –Verfolgung der Sinti und Roma im Dritten Reich. Ein ambitioniertes Anliegen, das allein bereits genug Stoff für einen vielschichtigen Roman geliefert hätte. Doch damit nicht genug, versammelt „Gott wohnt im Wedding“ eine ganze Fülle weiterer Themen, die mit den Lebensgeschichten und alltäglichen Erfahrungen der Protagonisten verknüpft sind. So setzt sich der Roman mit Erinnerungskultur und öffentlichem Gedenken ebenso kritisch auseinander wie mit der Frage, wer in der Öffentlichkeit als legitimer Sprecher und Vertreter einer (Opfer-)Gruppe auftreten kann und darf. Er thematisiert die oft Jahrzehnte währenden Erbschaftsprozesse um enteigneten jüdischen Besitz und die Rückübertragung von Grundstücken, erzählt von traumatischen Erfahrungen und verdrängten Erinnerungen und jahrelangem Schweigen. Er widmet sich Generationenkonflikten in unterschiedlichen historischen Konstellationen, beschäftigt sich mit familiären Wurzeln und Wahlverwandtschaften. Er liefert Innenansichten aus dem Leben im Kibbuz und beschäftigt sich zugleich mit dem nachbarschaftlichen Miteinander in einem großstädtischen Mehrfamilienhaus und schließlich – wie könnte es in einem Berlin-Roman der Gegenwart anders sein – darf am Ende auch das Thema Gentrifizierung nicht fehlen. Das ist, so interessant und von aktueller Relevanz die einzelnen Aspekte auch sein mögen, viel für einen Roman – in diesem Fall vielleicht ein wenig zu viel. Etwas inkonsistent erscheinen zudem auch die Figuren, von denen es im Roman ebenfalls reichlich gibt. Während der Roman hier einerseits mit den historisch erkenntnisreichen Passagen rund um Laila und Leo zu überzeugen weiß, präsentieren sich andere Charaktere – wie etwa die Gertrud-Figur, die ein wenig zu bemüht das Bild der netten alten Dame von nebenan bedient – zu eindimensional, um als wirklich glaubwürdig wahrgenommen zu werden. Dass zudem die finale Begegnung zwischen Gertrud und Leo, auf die die Handlung über weite Strecken zuläuft, am Ende inmitten der Vielzahl an Handlungssträngen geradezu untergeht, wirkt zumindest irritierend. Aller inhaltlichen Überfrachtung zum Trotz, hat Scheer mit „Gott wohnt im Wedding“ dennoch insgesamt nicht nur ein durchaus anschauliches Panorama gegenwärtiger Lebenswelten und Konfliktlagen vorgelegt. Anerkennung verdient hier auch ihr Versuch, insbesondere mit dem Fokus auf die Geschichte(n) der in Deutschland lebenden Sinti und Roma eine Leerstelle in den literarischen Verhandlungen deutscher Vergangenheit und Gegenwart zu füllen.

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