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Rezension zu
Niemals ohne sie

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Einer für alle, und alle für Einen

Von: Petras Bücher-Apotheke
01.05.2019

Die Explosion hatte den ganzen Berg erbeben lassen. Als durch die Decke der Mine ein Riss ging, das Gestein sich zunächst ausdehnte, dann zerbarst, und der zentrale Stützpfeiler zerbrach, retten sich zwei Gestalten in letzter Sekunde hinaus. In Windeseile hatten sich die Anwohner vor der alten Mine versammelt, hatte sich das Haus der Cardinals geleert. Staub lag in der Luft ebenso wie Angst - und Wut, hilflose Wut ... Nichts gehörte einem wirklich allein in dieser Familie. Man zog an was man auf dem riesigen Kleiderhaufen fand. Zig Stiefel waren vor dem Gang in die Schule zu trennen, man zog an was einem passte. Wahre Lebensmittelberge wurden von der Mutter zu Mahlzeiten verarbeitet, aus der Küche kam sie tagsüber nicht heraus. Allenthalben Prügeleien und Gerangel. Um einen Platz am Tisch, vor dem Fernseher. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb, traten die 21 Kinder der Cardinals nach außen hin auf wie eine geschlossene Formation, einig und unzertrennlich. Die Aufmerksamkeit zogen sie sowieso stets auf sich. Die Aufmerksamkeit derer, die kopfschüttelnd vor einem solchen Kinderreichtum standen.Sie wohnten in einem Haus indem das Leben pulsierte, immer schlug irgendwo eine Tür. In einem Haushalt, den das Chaos nie verließ, in einer Familie die arbeitete wie ein Organismus. Hier hatte jeder seine Funktion ... Mit sechs Jahre bekam die Älteste von fünf Mädchen ihren ersten Säugling zum Kümmern ans Herz gelegt. Fortan war dies ihre Aufgabe. Diese kleinen Bündel, die wie Saucier schreibt, nach der Leichtigkeit des Lebens rochen, am Leben zu halten. Ja, das war eine Herausforderung und die überhaupt größte Leistung wenn es gelang. Keines, das war die einzige Forderung der Mutter, durfte verloren gehen, wo sie selbst schon verloren wirkte ... "Unsere Mutter trägt etwas in sich, das beschützt werden will. Einen Riss, einen Graben, indem sich ihr Geist verirrt". (Textzitat) Mutter Cardinal war eine beständig vor sich hin murmelnde, gehetzt wirkende Frau, früh altersgebeugt, die wenn das Haus zur Ruhe kam durch die Nächte ihrer Kinder wanderte. Ihre Betten besuchte, mit der Taschenlampe in der Hand, die sie durchzählte. Auf knarzenden Dielen, mit gelösten Haaren und einem Nachthemd, dass sie wie eine Erscheinung wirken ließ. Mit achtundsiebzig Jahren arthrotisch und gefäßkrank schuftete sie noch immer. "Diese Frau kennt uns besser als wir selbst. Sie hat uns aus der Wolle ihrer Seele gestrickt. Sie kennt uns auf rechts und auf links. Sie findet jede verlorene Masche wieder". (Textzitat) Die Jungs hingegen lernten bereits mit sieben Jahren vom Vater, der sich von seiner Leidenschaft für Gestein gefangen halten ließ, den Umgang mit Dynamit. Sie sollten sich merken, dass wenn Dynamit eines hasste, dann seien das Eile, Feuchtigkeit und Erschütterung. Schreckhaft sei es und sie täten gut daran Angst vor ihm zu haben ... "Pack verschlägt sich, Pack verträgt sich; Blut ist dicker als Wasser". Solche Sprichwörter kennt man zur Genüge, hier werden sie lebendig und auf die Cardinals treffen sie alle zu. Mit Grasfeuern, brennenden Reifenstapeln, aufgespießten Haustieren, fanden sie ihre Kurzweil. Lärmend, prügelnd, üble Streiche spielend zogen die Kinder im Rudel durch den Ort. Wie ein Heer von Tyrannen müssen sie auf die Bewohner gewirkt haben, für diese "Landeier" hatten die Cardinal-Kinder aber eben nichts übrig. So spießig ... "Einer für alle, und alle für Einen". Gleich wie viele interne Streitereien sie auch ausgefochten haben mochten, nach außen wirkten sie wie ein Mann. Hart, streitbar und wehrhaft musste man in dieser Familie sein. Lachend verglich man im Winter die Frostbeulen, die man sich an den Füßen zugezogen hatte. In alle Winde verstreut. Australien, Südamerika, Europa. Dreißig Jahre lang hatte es kein Familientreffen mehr gegeben. Das man dem Vater jetzt mit seinen einundachtzig Jahren eine Medaille und den Titel "Erzsucher des Jahres 1995" verleihen wollte, mutete für alle seltsam an, seit 1944 hatte er schließlich nichts mehr wirklich bedeutendes entdeckt, und doch waren sie gekommen. Alle, alle bis auf Eine ... Hier tief unter der Erde, im Herzen der Finsternis nahm alles seinen Anfang und sein Ende ... Und an diesem Ende würde er sich ihnen stellen müssen, unbewaffnet und mit offener Deckung. Unter dem Berg, mit seinen Erinnerungen, die sich so real anfühlten als seien sie aus Fleisch und Blut. Jocelyne Saucier, geboren 1948, kanadische Journalistin und Schriftstellerin. 2015 erschien ihr vierter Roman Ein Leben mehr in deutscher Sprache. Dieser wurde in ihrer Heimat für vierzehn! Literaturpreise nominiert und ich werde mir diesen jetzt auf jeden Fall noch vornehmen. Bereits im Jahr 2000 erschien Niemals ohne sie in französischer Sprache und die Übersetzung ins Deutsche von Sonja Finck und Frank Weigand hat mir sehr gefallen. Sprachlich ausgewogen, sanft und klar. Wild und zart zugleich erzählt Saucier. Nein, besser lässt sie die Cardinal Geschwister erzählen. Gibt ihnen Spitznamen nicht wie eine Autorin, nein, beinahe wie eine Mutter. Alle liegen sie ihr am Herzen, das spürt man in jeder Zeile. Dramaturgisch geschickt verschachtelt, mit zahlreichen Rückblicken und Perspektivwechseln stattet sie ihre Geschichte aus. Die Sehnsucht der Kinder von den Eltern einzeln, als Individuum wahrgenommen zu werden, lässt sie uns so spüren, dass es weh tut. Aus zahlreichen Fragmenten fügt sie ihren Roman nach und nach zu einem Gesamtbild. Sie hält uns hin, steigert die Spannung mit sonnenlosen Tagen und schlaflosen Nächten. Längst ahne ich, das etwas geschehen wird, das etwas geschehen ist, das wenn ich davon erfahre, mir der Atem stocken wird ...  Eine empathische Geschichte, die mich entwaffnet hat und als Hörbuch so stimmig inszeniert ist, dass ich sie rückblickend nicht hätte lesen wollen. Das bunt gemischte Sprecher-Ensemble, welches sich hier versammelt, ist eine echte Bereicherung für die Story. So unterschiedlich wie die Charaktere der Geschwister ist der Stil ihres Vortrages, ihre Interpretation, sind ihre Stimmen. So verstärkt dieser bunte Strauß an Vorlesern auch die Diversität der Familienmitglieder ganz wunderbar.Sechs Cardinals kommen zu Wort, allesamt großartig vertreten durch Devid Striesow (als Max), Claudia Michaelsen (als Jeanne d'Arc), Anna Thalbach (als Tommy), Sabin Tambrea (als El Toro), Robert Stadlober (als Émilien) und Benno Führmann (als Geronímo). Keinen von diesen Schaupielern muss man mehr vorstellen, als Hörbuchsprecher sind aber nicht alle durchgängig aktiv, von daher hat es mir besonders gefallen einmal ein paar für mich frische Stimmen im Ohr zu haben. Claudia Michaelsen hat mich sehr beeindruckt, sie liest die Rolle des ältesten Geschwisterkindes Jeanne D'Arc mit einer Ruhe und Eindringlichkeit - Wow! Als sich dann gegen Ende des Kapitelreigens die Stimme von Geronímo alias Benno Führmann erhebt, ist auch mir ist klar, wer hier der Chef im Familien-Ring ist! Ich weiche zurück, stelle mich ins Glied. Hier ist mein Platz, unter ihnen, unbeugsam, die Hackordnung beachtend. Dem Leitwolf folgend, mit unbeugsamem Willen. Die stummen Anklagen halte ich aus, bin auf der Flucht, suche Zuflucht. Schreie innerlich auf, tief steckt uns die Schuld in den Knochen, beugt und nagt an uns ... Motive die im Dunkeln lauern, stumme Gespräche, verdrängte Trauer unter schwelendem Schmerz. Ein Knall - und die Zeit steht still ...

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