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Rezension zu
Der Lärm der Zeit

Beachtenswerte und berührende Romanbiographie

Von: Sigismund von Dobschütz/Buchbesprechung aus Bad Kissingen
04.02.2019

Ein beachtenswertes Buch über den russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906-1975) ist die 2017 erstmals auf Deutsch, im Herbst 2018 auch als Taschenbuch (btb-Verlag) erschienene Romanbiographie „Der Lärm der Zeit“ des britischen Man-Booker-Preisträgers Julian Barnes (73). In vier Zeitschritten von jeweils zwölf Jahren zwischen 1936 und 1972, von der „schlimmsten“ bis zur „allerschlimmsten“ Zeit, beschreibt Barnes das zyklische Auf und Ab im Leben des einst berühmtesten, zwischendurch meist geächteten Musikschaffenden aus dessen [fiktiver] persönlicher Sicht, allerdings basierend auf historischen Fakten und Dokumenten der Schostakowitsch-Familie. Der Roman zeigt eindringlich die Macht- und Hilflosigkeit des Einzelnen innerhalb eines diktatorischen (Stalin) oder später autokratischen Systems (Chruschtschow). Er zeigt den einsamen und doch vergeblichen Kampf des still zurückhaltenden, sensiblen Musikers gegen den „Lärm der Zeit“. Im Mai 1937 wartet Schostakowitsch Nacht für Nacht neben dem Fahrstuhl seiner Leningrader Wohnung in der Annahme, Stalins Geheimpolizei werde ihn abholen. Er wartet am Lift, um Frau und Tochter den Anblick seiner Verhaftung zu ersparen. Der einst als 20-Jähriger gefeierte Komponist ist bei Stalin und seinen Höflingen in Ungnade gefallen, nachdem dem Diktator seine erste Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ missfallen hatte. Doch Schostakowitsch wartet vergeblich. Nach Jahren der Angst, folgen die Jahre der Demütigung. Der im Ausland gefeierte Komponist wird von Stalin 1948 als sowjetisches „Aushängeschild“ zum Weltfriedenskongress nach New York geschickt. Unter totaler Kontrolle hält er Reden, die ihm geschrieben wurden, und muss dabei sogar den von ihm hoch verehrten, seit 1940 in den USA lebenden Exil-Russen Igor Strawinsky „verraten“. Schostakowitsch hat sich der Macht gebeugt und tut es auch weiterhin, auch nachdem mit Chruschtschow eine scheinbare Liberalisierung eingetreten ist. 1960 feiert man den von Stalin Geächteten plötzlich wieder als Helden der Sowjetunion. Doch noch immer lebt Schostakowitsch unfrei, noch immer werden ihm als Vorsitzender des Komponistenverbandes seines Redetexte vorgegeben. Er darf sich nicht einmal für seine im Ausland verdienten Devisen einen Mercedes kaufen, sondern muss sich mit einer Wolga-Limousine, wenn auch zuletzt mit Chauffeur, begnügen. Der Komponist fügt sich in sein Schicksal und tritt schließlich sogar, von den Mächtigen gezwungen, in die Partei ein. „Da man alles tun würde, um die Menschen zu retten, die man liebte, tat man auch alles auf der Welt, um sich selbst zu retten. Und da man keine Wahl hatte, gab es auch keine Möglichkeit, der moralischen Kourruption zu entgehen.“ Ist es verwerflich, sich der Macht zu beugen? Dies ist die Kernfrage dieses Romans des britischen Autors. Schostakowitsch ist politisch nicht interessiert, er will nur in Ruhe und Frieden komponieren. Doch das System lässt ihm diese Ruhe nicht und missbraucht ihn für politische Zwecke. Für uns Deutsche, denen der Terror der Nazi-Diktatur und der Schrecken des DDR-Regimes näher ist, sind die beschriebenen Vorkommnisse und die Fragestellung des britischen Schriftstellers nicht neu, sondern werden seit Jahrzehnten dikutiert. Dennoch berührt Julian Barnes' Roman und stimmt nachdenklich. Die [fiktive] Sicht des Komponisten auf die Geschehnisse und das Miterleben seiner Ängste, seiner Vereinsamung und Depressionen, die ihn oft an die Grenze des Freitods führen, macht den Text so beklemmend. „Es war schon so weit gekommen, dass er sich beinahe täglich dafür verachtete, der Mensch zu sein, der er war. Er hätte vor Jahren schon sterben sollen.“ So muss schließlich der alternde Musiker den letzten Triumph der Machthaber anerkennen: „Statt ihn umzubringen, hatten sie ihn leben lassen. Indem sie ihn leben ließen, hatten sie ihn umgebracht.“ Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch starb 1975 im Alter von 77 Jahren.

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