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Rezension zu
Der Verräter

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Fulminant

Von: LiteraturReich
15.12.2018

Schon der Beginn des Prologs von Paul Beattys 2016 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnetem Roman „Der Verräter“ (Original „The Sellout“) macht deutlich, mit was für einem Buch man es hier zu tun hat. Keine der von amerikanischen Autoren bekannten, nicht selten großartigen Familiengeschichten oder Gesellschaftspanoramen, in die man bei allen Abweichungen und Differenzen doch immer irgendwie eintauchen kann, teilnehmen kann, Identifikationen aufbauen kann, im positiven oder auch im negativen Sinn. Hier will keine politische Korrektheit herrschen, sondern Provokation, schon allein durch den inflationären Gebrauch von Wörtern wie „Nigger“ oder „Motherfucker“. Aber hier geht es dem Autor auch um etwas, nämlich um den fortbestehenden Rassismus in den USA, um die schwarze Identität an sich, das Selbstbild der Afroamerikaner. Das gelegentliche Unwohlsein des Lesers, auch seine Verwirrung wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist Programm. Der Autor kommt von der Lyrik her, betätigt sich auch als Poetry-Slammer. Das erklärt den ausgeprägten Rhythmus seiner Sprache, aber auch die teils sehr derbe, sich des Slangs bedienende Sprache. Paul Beatty brennt ein teilweise aberwitziges Ideenfeuerwerk ab, reiht Gag an Gag, Pointe an Pointe, schreckt auch vor dem einen oder anderen Kalauer nicht zurück, und versteckt darunter eine nur allzu bittere Wahrheit: dass auch nach acht Jahren unter der Präsidentschaft Barack Obamas (von Trump war da noch gar nicht die Rede) die Situation der schwarzen Bevölkerung keine grundlegend andere geworden ist, sich in Bezug auf Chancengleichheit, Kriminalitätsrate, Polizeigewalt zu wenig geändert hat. Der äußerst unzuverlässige Ich-Erzähler, jener „Verräter“, der dem Buch im Deutschen den Titel verliehen hat, ist „Bonbon“ Heros. „Bonbon“ nennt ihn allerdings nur die „Liebe seines Lebens“, die Busfahrerin Marpessa, die leider anderweitig verheiratet ist. Ansonsten bleibt er (vor)namenlos. Aufgewachsen bei seinem alleinerziehenden Vater, einem „nicht ganz unbedeutenden Sozialwissenschaftler“ und Bürgerrechtler, der später aufgrund seiner beruhigenden Wirkung auf angehende Selbstmörder im Viertel „der Niggerflüsterer“ genannt wird, macht er sich nach dessen Tod durch Polizeikugeln diverser Verstöße gegen die Verfassung schuldig, weswegen er am Buchbeginn auf der Anklagebank sitzt. Übrigens völlig bekifft sitzt. Vielleicht der Grund, weswegen so manches vom Erzählten völlig absurd klingt. Die Anklagepunkte heißen „Sklaverei“ und „Rassentrennung“, zwei Dinge, die in den Vereinigten Staaten von Amerika seit 1865 bzw. 1964 abgeschafft sind. Abgeschafft sind? Zumindest bei letzterem beharrt der Ich-Erzähler darauf, dass Rassentrennung lediglich auf dem Papier nicht mehr existiert und plädiert auf unschuldig. Aber wie kam es eigentlich zu den merkwürdigen Vorwürfen? Alles begann damit, dass der alte und schon etwas tüdelige Hominy Jenkins, einst erfolgreicher Kinderstar in der (nicht nur) unter rassistischen Gesichtspunkten etwas fragwürdigen Kurzfilmserie „Our Gang“ (zwischen 1922 und 1944 gedreht und in Deutschland unter „Die kleinen Strolche“ bekannt) und eine Lokalgröße, beim Ich-Erzähler um Aufnahme als Sklave, inklusive donnertäglichem Auspeitschen, erbittet. Dieser Hominy ist natürlich eine fiktive Figur, aber allen älteren Semestern ist sicher noch der kleine schwarze Junge in Erinnerung, dem in der Kinderbande der „Kleinen Strolche“ eine selten dämliche Rolle als pausenlos hungriger Mitläufer zugedacht war und dem abwechselnd vor Erstaunen, Erschrecken oder auch sonst wie wahlweise die riesigen Augen aus dem Kopf quollen oder die struppigen Haare zu Berg standen, und an den diese Figur angelehnt ist. Um Hominy an seinem Geburtstag eine Freude zu machen, heuert der Ich-Erzähler Marpessas Bus an und nimmt eine „gute alte“ Trennung von weißen und farbigen Passagieren darin vor. Nur für die eine Fahrt gedacht, belässt es Marpessa aber bei der Regelung, und siehe da, die Disziplin im Bus steigt, ebenso der Respekt vor den Mitfahrenden, generell das Benehmen und der Umgangston. Das bringt ihre Freundin, die Lehrerin ist, auf die Idee, es auch an der Schule mit Rassentrennung zu versuchen. Sie wendet sich an den Ich-Erzähler, der zudem dabei ist, sein Viertel, das (fiktive) Dickens, irgendwo in South-Central Los Angeles, das infolge der Gentrifizierung, um seinen Ruf als Stadtteil mit der höchsten Mordrate auszulöschen, einfach von der Karte getilgt und anderen Stadtteilen zugeschlagen wurde, wiederzubeleben. Mit einem Markierwagen für Sportplätze zieht er eine neue/alte Grenze um sein ursprüngliches Heimatviertel. Klingt alles ziemlich verrückt? Ist es auch. Es kommen noch der Club der Dum-Dum-Donat-Intellektuellen, absonderliche Erziehungsmethoden des Vaters, die auch vor Konditionierung durch Stromschläge nicht zurückschreckten, psychologische und soziologische Abhandlungen und zahllose Referenzen zu US-amerikanischer Literatur, zu Filmen, Fernsehen, Berühmtheiten hinzu. Gespickt mit jeder Menge lateinischer Zitate und sonstigem Bildungszierat ist das Ganze keine ganz leichte Lektüre. Zumal man sich ständig fragt, „Meint der das jetzt ernst?“. Es ist bis zuletzt unklar, ob da nur einer im Drogenrausch fabuliert, oder ob der Autor hier seine Geschichte satirisch zuspitzt und gehörig übertreibt. Dass Vater und Sohn Heros mitten in L.A. South Central eine ausgedehnte Farm bewirtschaften sollen (Spezialitäten Satsumas, Melonen und Marihuanha) und der Protagonist überall mit dem Pferd vorreitet, macht die Sache auch nicht glaubwürdiger. Paul Beatty hat ein wahrhaft fulminantes Buch geschrieben, cool, ausufernd, aberwitzig, radikal. Es zeigt die Vielgestaltigkeit von Rassismus, reizt sämtliche Klischees aus und hinterfragt vehement alle Gruppen- und Rassenzugehörigkeiten. Nicht immer ganz leicht zu lesen, aber erhellend, schockierend, anregend und manchmal einfach saukomisch.

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