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Penny Hancock im Interview zu »Ich beschütze dich« (Psychothriller) - Goldmann Verlag

Penny Hancock über ihren Psychothriller »Ich beschütze dich«

Penny Hancock
© Christopher Schmid
Sie sind in Südlondon aufgewachsen und leben heute mit Ihrem Mann und ihren drei Kindern in Cambridge, wo Sie als Lehrerin arbeiten. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Schon als kleines Mädchen habe ich leidenschaftlich gern geschrieben. Ich füllte ganze Hefte mit Geschichten über Ponys, Abenteuer und überstandene Katastrophen. Danach schrieb ich bis ins Erwachsenenalter weiterhin Romane und Kurzgeschichten, aber ich war mir im Klaren darüber, dass die Aussichten, vom Schreiben leben zu können, äußerst gering sind. Daher wurde ich Lehrerin in der Hoffnung, Kinder (und neuerdings auch Erwachsene) mit meiner Leidenschaft fürs Geschichtenerfinden anstecken zu können - und nebenbei schrieb ich weiter.


„Ich beschütze dich“ ist Ihr erster Roman. In Besprechungen des Buches wird immer wieder hervorgehoben, dass es sich um eine wirklich originelle Geschichte handelt. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Als ich gerade an einem Roman übers Erwachsenwerden und die erste Liebe schrieb, wurde ich in einem Kurs über Kreatives Schreiben aufgefordert, mir einen Plot für einen Kriminalroman auszudenken. Da ich keine gewöhnliche Krimigeschichte über einen Mörder und einen Detektiv schreiben wollte, dachte ich darüber nach, ob ich nicht hier meinen bisher erfolglosen Versuch umsetzen könnte, über die erste Liebe zu schreiben: Im Bestreben, eine leidenschaftliche Jugendliebe wieder aufleben zu lassen, nimmt eine Frau einen Teenager buchstäblich gefangen. Auf den ersten Blick schien das ein vorgefertigter Einfall zu sein – John Fowles hatte etwas Ähnliches bereits in „Der Sammler“ umgesetzt, wo es um einen Mann geht, der ein junges Mädchen „in seine Sammlung steckt“ – aber soweit ich wusste, hatte es noch niemand anders herum beschrieben. Zudem fiel mir auf, dass Frauen in einem bestimmten Alter häufig wie besessen von ihrer ersten Liebe sind, und deshalb nahm ich an, dass sich viele Frauen damit identifizieren könnten. Was ich nicht ahnte war, dass auch Männern diese Idee gefallen würde!


Sonia, die Hauptfigur Ihres Buches, wird gern mit Annie Wilkes aus Stephen Kings „Misery“ verglichen. Aber als Sie Ihren Psychothriller schrieben, kannten Sie weder den Roman „Misery“ noch die Verfilmung. Die Grundkonstellation – eine Frau hält einen Mann in ihrem Haus gefangen – legt zwar einen Vergleich nahe, doch weitere Übereinstimmungen gibt es kaum. Wie würden Sie Sonia charakterisieren und wie unterscheidet sie sich von Annie Wilkes?

Die meisten Thriller versetzen den Leser in die Perspektive des Opfers , um ihm den Impuls, der Gefahr zu entkommen, aufzuzwingen. Darauf zielt auch Stephen King in „Misery“. Ich jedoch wollte, dass sich meine Leser mit Sonia, der Täterin, identifizieren. Ich wollte, dass die Leser Verständnis für ihre Besessenheit aufbringen und ihre verhängnisvolle Entwicklung zur Verbrecherin nachvollziehen können. Im Grunde ist Sonia eine liebevolle, leidenschaftliche und sehr attraktive Frau, die aufgrund einer Reihe von Ereignissen, für die sie selbst nichts kann, bedenklich aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es ist eher ein Übermaß an Leidenschaft und Gefühlen, das sie dazu treibt, sich so zu verhalten, wie sie es tut, als ein Mangel an Empathie. Sie handelt in guter Absicht, aber sie ist verblendet – sie bildet sich ein, Jez zu „beschützen“ (obgleich man natürlich niemanden beschützen kann, indem man ihn gefangen hält!). Ich las „Misery“ erst, nachdem ich „Ich beschütze dich“ geschrieben hatte, und war verwundert, wie unansehnlich und gefühllos Stephen King die Widersacherin in seinem Buch ausgestaltet hatte. Er beschreibt sie wie einen Holzklotz – komplett von der Umwelt abgeschottet – und ohne menschliche Gefühle. Eine großartige Horrorgestalt, wirklich angsteinflößend und nicht die Spur sympathisch! Sie und Sonia sind also sehr unterschiedlich und ticken völlig anders, obgleich sie ein ähnliches Verbrechen begehen.


Die Handlung ist in einem Londoner Haus am Themseufer angesiedelt. Wie gut kennen Sie die Gegend, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, und was verbindet Sie mit ihr?

Es kommt mir vor, als würde ich das Themseufer in Greenwich in- und auswendig kennen, da ich während der Arbeit an meinem Buch dort sehr sorgfältig recherchiert habe. Was ich an diesem Flussabschnitt so spannend finde, ist, dass er sich ständig im Wandel, in Umbau und Veränderung, befindet. Kürzlich kehrte ich zu dem Flusspfad zurück, an dem der Roman spielt, und es gab schon wieder neue Läden, Büros und Restaurants, die noch nicht existiert hatten, als ich mit meinem Roman begonnen hatte. Ich wuchs in dieser Ecke auf, aber der Ort meiner Kindheit ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Die Kais und Speicher, die alten Lastkähne, der Schlamm und der Dreck – alles ist verschwunden. So kommt es, dass ich mir zwar einbilde, die Gegend wie meine Westentasche zu kennen, dass sie aber andererseits voller Überraschungen für mich steckt. Nur der Fluss bleibt als etwas Unveränderliches, Brütendes und Furchteinflößendes bestehen, er flutet heran und ebbt wieder ab, schwemmt Sachen an Land und spült andere mit sich fort.


Die Themse ist in Ihrem Thriller so wichtig, dass sie den Stellenwert einer eigenständigen Romanfigur einnimmt. Können Sie etwas mehr darüber erzählen, welche Rolle der Fluss spielt?

Ich habe den Roman an diesen Abschnitt der Themse versetzt, weil ich eine nostalgische Stimmung heraufbeschwören wollte. Ich wuchs ganz in der Nähe auf und weil ich heute in einer ländlichen Gegend ohne Gewässer lebe, vermisse ich den Fluss. Doch kaum hatte ich begonnen zu schreiben, nahm die Themse ein Eigenleben an. Die Gezeiten, die wechselnde Farbe ihrer Oberfläche, die Eigenschaft, im einen Moment düster und aufgewühlt, im anderen glatt und reglos zu sein, all das floss in den Roman ein, und ich nahm wahr, dass sie sich wie eine Person verhielt. Manchmal stand sie Sonia bei und trieb sie an, dann wieder bedrohte sie sie, manchmal spiegelte sie auch ihre Stimmungen, dann wieder verspottete und verhöhnte sie sie. Die Themse ist wie ein Lebewesen, das man verehren sollte. Sie ist mit ihren starken Strömungen überdies unglaublich gefährlich – wenn man an bestimmten Stellen des Flusslaufs hineinfiele, hätte man keine Chance – daher ruft sie auch ein Gefühl der Bedrohung hervor. Und sie spielt eine Schlüsselrolle bei der Erklärung für Sonias seelische Verfassung. Als die Handlung ihren Höhepunkt erreicht, ist Sonia dem Fluss vollkommen ausgeliefert – ihr Schicksal hängt davon ab, wie schnell und wie hoch die Flut steigen wird.


Die Ereignisse umfassen einen Zeitraum von etwa fünf Tagen und werden überwiegend aus Sonjas Sicht geschildert. Warum haben Sie sich dafür entschieden, gelegentlich die Erzählperspektive zu wechseln und die Geschichte aus Helens Warte weiterzuerzählen, die eine enge Freundin Sonjas ist?

Ursprünglich schrieb ich den ganzen Roman aus Sonias Perspektive, aber eine Lektorin wies mich darauf hin, dass dies ihn zu stark verdichte. Sie war der Meinung, der Leser sollte die Möglichkeit erhalten, aus der zwanghaften Sichtweise von Sonias Bericht herauszutreten. Helen kam mir vor wie der ideale Gegenpart, da sie zugleich Sonias Freundin und Jez´ Tante ist. Jez verschwindet, während er sich bei Helen zu Besuch aufhält. Helen wird von ihrer Schwester, Jez´ Mutter, dafür verantwortlich gemacht und ist von den Ereignissen traumatisiert. Ich wollte herausfinden, was mit einer Familie passiert, aus der ein Kind verschwindet. Ich stellte mir vor, dass in dieser belastenden Situation sicher unausgesprochene Dinge zutage kommen und die Beziehungen in ihren Grundfesten erschüttert würden.

Helen sucht bei ihrer alten Freundin Sonia Trost. Diese Freundschaft, die eigentlich viel zu eng ist, um Geborgenheit zu vermitteln, bot eine Fülle von Anknüpfungsmomenten, um Spannung zu entwickeln und den Interessenkonflikt zwischen den Frauen zu verdeutlichen. Helen klammert sich auf ihrer Suche nach Hilfe immer stärker an Sonia und merkt nicht, dass ihre ehemalige Freundin in Wahrheit verantwortlich für Jez´ Verschwinden ist. Währenddessen fühlt sich Sonia von Helens Ansprüchen in die Enge getrieben. Derart unter Druck gesetzt, greift sie zu extremen Mitteln…


Welche Rolle spielt die Erotik in der Beziehung zwischen Sonja und dem fünfzehnjährigen Jez?

Eine äußerst wichtige Rolle, da Sonia Jez mit ihrer ersten Liebe vergleicht, über die sie nie hinweggekommen ist – und zwar in dem Sinn, dass sie sich seither erotisch nicht weiterentwickelt hat. Sie beschwört fortwährend die Bilder einer für sie perfekten Liebe herauf, die sie zu einer Zeit erlebte, als ihr Liebhaber auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Blüte stand. Dabei ist sie nicht in imstande zu merken, dass Seb sie für seine Machtspiele einsetzte und fast schon missbrauchte. Diese Erfahrung verfolgt sie und prägt ihr künftiges Verständnis von sexuellen Beziehungen. Sie kann keine reife Verbindung zu erwachsenen Männern eingehen – in der Beziehung zu ihrem Ehemann Greg ist sie frigide. Sie verzehrt sich nach den Gefühlen, die sie für den jungen Seb empfand, und versucht, sie durch Jez wieder aufleben zu lassen. Aber wie schon ihre Beziehung zu Seb, ist auch die zu Jez einseitig. Sie begehrt Jez, aber sie kann das nur zum Ausdruck bringen, wenn er schläft, und ist sich nicht darüber im Klaren, was in ihr vorgeht.

Auch wenn Jez hin und wieder arglos mit Sonia flirtet, reagiert sie darauf nie wie eine Erwachsene, indem sie seine Aufmerksamkeit zwar erwidert, ihm aber als Minderjährigem eine klare Grenze zieht. Das bringt Jez furchtbar durcheinander, weil er nicht herausfinden kann, was sie von ihm will.


Können Sie schon verraten, worum es in Ihrem nächsten Buch gehen und ob es wieder in Greenwich an der Themse spielen wird?

Es ist wieder ein Psychothriller, doch diesmal ein ganz anderer.
Er spielt in Deptford, einem Londoner Stadtteil mit einer faszinierenden Geschichte, der flussaufwärts gleich neben Greenwich liegt. Früher war Deptford mit seinen Werften ein florierendes Viertel, aber jetzt ist es einer der heruntergekommensten Stadtteile Londons. Für meinen Roman, in dem die Beziehung zwischen einer erfolgreichen Karrierefrau und ihrer Hausangestellten, einer Migrantin, ausgelotet wird, bot sich dieser Schauplatz an. Denn der Kontrast zwischen der bitteren Armut im heutigen Deptford und dem extremen Reichtum am gegenüberliegenden Flussufer in Canary Wharf erschien mir dafür sehr passend.
Die Geschichte setzt mit einem Leichenfund im Fluss ein, aber dann arbeitet sie erst einmal nach und nach die Beziehung der beiden Frauen und ihre gegensätzlichen Lebensziele heraus.
Mich hat es interessiert zu erkunden, welches Kräftespiel zwischen zwei Frauen in einem Haushalt herrscht, von denen eine das Sagen hat und die andere abhängig ist. In letzter Konsequenz mündet die Beziehung in Paranoia, Besessenheit und Mord – was natürlich eine Erklärung für die Leiche im Fluss zu Beginn des Romans ist.
© Elke Kreil, Goldmann Verlag