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SPECIAL zu Owen Sheers

Ein schicksalhafter Moment und seine Folgen

Owen Sheers über seinen Roman "I Saw a Man"

Owen Sheers
© Owen Sheers
Herr Sheers, Ihr neuer Roman setzt sich mit Themen wie Freundschaft und Familie, Verlust und Schuld auseinander. Was steht für Sie besonders im Mittelpunkt?

Hoffentlich alle Themen in gleichem Maße. Mit "I Saw a Man" wollte ich einen Roman schreiben, in dem nichts an den Rand gerückt ist. Dementsprechend könnte man die Themen, die Sie erwähnen, gleichermaßen als „Ventrikel“ des Romanherzen bezeichnen. Wo genau dieses Herz liegt, wird allerdings vielleicht jeder Leser anders sehen.

Könnte man sagen, dass das Herz dieses Romans vielleicht in der Familie angesiedelt ist, im Zuhause – dessen Idylle durch den Einbruch der globalisierten Welt schmerzhaft gestört wird?

Ja, das war mir in jedem Fall wichtig: das Private einer Familiengeschichte mit den Entwicklungen unserer globalisierten Welt zu verbinden. Vor allem ging es mir um (männliche) Figuren, für die das Zuhause und die Familie Aspekte des Lebens sind, um die es sich zu kämpfen lohnt. Ich wollte vor allem aber auch zeigen, wie Gewalttaten ihren Ursprung in Liebe haben können. Und ich wollte herausfinden, ob es mir gelingen würde, Figuren zu zeichnen, die an ihrem Verlust wachsen. Damit will ich nicht die Tiefe ihres Gefühls infrage stellen; sie sind schlicht vielschichtige Wesen, und auch im Verlust liegt immer irgendein Gewinn – unsere Persönlichkeit wächst mit jeder neuen Erfahrung.
Das Zuhause steht jedoch im Mittelpunkt, das muss ich zugeben. Es ist ein nützlicher Prüfstein. Michaels Überschreiten der Schwelle zum Haus seiner Nachbarn löst ein Echo der Überschreitung aus, das hoffentlich durch den ganzen Roman hallt – quer durch die Welt des Militärs, des Geldes und, in Michaels Fall, der Literatur.

Einige der Protagonisten scheinen eingangs etwas zögerlich, wenn es um Dinge wie Freundschaft und Familie geht, aber sie lernen, dass es wichtige Aspekte des Lebens sind. Trotzdem geht alles letztlich so schrecklich schief – warum?

Im traditionellen Roman des 19. Jahrhunderts wäre diese Wende eine Sache des Figurencharakters gewesen – eine Frage bestimmter angeborener Wesenszüge und Persönlichkeitsmängel. Aber das Leben ist selten so einfach, und vor allem in einer modernen Welt können Menschen Opfer eines größeren, globalen Systems werden, ohne unmittelbar selbst Schuld daran zu tragen. Aber, um ehrlich zu sein, würde ich die Frage, warum was passiert, dem Leser überlassen.

Die Einstiegsszene, zu der wir im Laufe der Geschichte immer wieder zurückkehren, ist unwahrscheinlich spannend …

Das war tatsächlich der Kern des Romans. Die Szene stand mir genau so als fertig geformtes Bild eines Tages vor Augen: Ein Mann öffnet langsam die Tür zum Haus seiner Nachbarn und geht hinein. Das war das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist. Und natürlich hat es zu einer Menge Fragen geführt: Wer ist dieser Mann, warum macht er das, an welchem Punkt in seinem Leben befindet er sich?
Ich habe letztlich Anleihen bei meinem eigenen Lebenslauf gemacht, um die Lücken in der Geschichte zu füllen: Das Setting des Romans basiert auf der Straße in Hampstead, in der ich selbst einmal gewohnt habe, und auch ich befand mich damals in einer Übergangsphase.
In den sieben Jahren, in denen ich an "I Saw a Man" gearbeitet habe, haben sich meine Lebensumstände stark verändert. Als ich mit dem Schreiben anfing, fühlte sich die Vorstellung, eine Familie zu gründen, noch sehr entfernt an; mir war nicht klar, wie andere das hinkriegten. Drei Mal habe ich mit dem Roman angefangen, das Geschriebene jedoch immer wieder verworfen. Als ich endlich die richtige Stimme gefunden hatte, war mir auch das Konzept einer eigenen Familie viel näher. Am Tag meiner Hochzeit war das Manuskript dann fertig.

Wie wichtig ist es Ihnen, dass Sie die Orte kennen, über die Sie schreiben?

Der Schauplatz war definitiv ein Ausgangspunkt für diesen Roman, denn das oben erwähnte Bild des Mannes, der das Haus seiner Nachbarn betritt, war für mich ganz klar in Hampstead verortet.
Zum einen war da der Park: Wenn ich in Hampstead Heath schwimmen oder joggen war, haben mich immer diese Häuser fasziniert, deren Rückseite an den Park grenzt; sie wirkten so durstig nach Ausblick. Landschaften wie die des Heath entfalten eine ganz besondere Wirkung auf Menschen, die in einer Großstadt wohnen: Sie simulieren eine Wildnis und schaffen so Möglichkeiten des Rückzugs und der Grenzüberschreitung. Ich habe den Park im Roman deshalb so gezeichnet, als würde er heilend auf die Figuren wirken, die in ihm Zuflucht suchen.
Zum anderen habe ich mir in der Zeit, in der ich dort gewohnt habe, über viele Themen Gedanken gemacht, die dann in den Roman eingingen – vor allem über die Frage, was passiert, wenn gut situierte Menschen plötzlich mit globalen Entwicklungen konfrontiert werden, die normalerweise in ihrem geschützten privaten Umfeld nicht zu spüren sind.

Würden Sie sagen, dass es in unserer modernen, hoch vernetzten Welt mehr Dinge gibt, vor denen wir Angst haben sollten, als früher?

Statistisch betrachtet wahrscheinlich nicht. Aber wir hören und sehen heute mehr von der Welt denn je, und deswegen mag es manchmal so erscheinen, als gäbe es heutzutage mehr Dinge im Leben, die uns Angst machen, als früher. Diese Ängste sind manchmal fehlgerichtet, und wir schaffen es nicht, sie auf ihre wahren Ursachen zurückzuführen – auf soziale Ungleichheit oder unser Unvermögen, der Jugend ein Gefühl von Bestimmung und Zugehörigkeit zu vermitteln.
Manchen Menschen fällt es leichter, sich von den Konsequenzen bestimmter Taten zu distanzieren, als anderen. Das war in jedem Fall ein Spannungsfeld, das ich in dem Roman ausleuchten wollte – dieses Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz ist ein zentraler Wesenspunkt unserer modernen Welt. Wir sind in das Leben uns vollkommen fremder Menschen involviert, haben aber mit den Auswirkungen unseres Handelns auf diese Menschen nur selten etwas zu tun.

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

Nehmen wir die Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak. Sie sind eine menschliche Auswirkung verfehlter Interventionen im Nahen Osten. Sie sind, zum Teil, die Konsequenz der Entscheidung der USA, in den Irak einzumarschieren – und doch werden diejenigen, die diese Entscheidung zu verantworten haben, niemals auf jene Flüchtlinge treffen oder vielleicht noch nicht mal über sie nachdenken müssen.

Krieg scheint ein Thema zu sein, das Sie umtreibt. Woher kommt dieses Interesse?

Zunächst muss ich sagen, dass ich mich nie hinsetze und sage: „Jetzt schreibe ich über den Krieg.“ Jedes meiner Projekte ist bisher aus einem anderen Impuls heraus entstanden. Dennoch haben Sie recht – mein Leben als Autor hat sich parallel zu den Konflikten entwickelt, die durch 9/11 hervorgerufen wurden.
Für eines meiner Theaterstücke habe ich dreißig Soldaten interviewt, die frisch verwundet aus dem Afghanistan-Krieg zurückkehrt waren. Einige von ihnen waren psychisch noch gezeichnet, die Erfahrung der Verwundung noch frisch, und ich hatte das Gefühl, dass es hier mehr zu sagen gäbe, und so entstand mein Versdrama "Pink Mist".

Sie scheinen sich in jedem Genre zuhause zu fühlen: Sie haben Gedichte, Romane, Dramen, ein Sachbuch und ein Libretto verfasst. Wie entscheiden Sie, welche Form Ihr nächstes Projekt annehmen wird?

Mehr und mehr ist es so, dass der Inhalt für mich die Form bestimmt. Das hat zum Teil praktische Gründe – mir wurde schon früh klar, dass es reizvoll ist, über ein Repertoire verschiedener Erzählformen zu verfügen. Es fasziniert mich schon seit Langem, wie diese unterschiedlichen Motoren funktionieren.
Ich muss jedoch gestehen: Wenn ich nur noch ein einziges Genre in meinem Leben bedienen dürfte, dann würde ich zur Lyrik zurückkehren. Das ist die vollständigste, unmittelbarste Art, Leser und Autor miteinander zu verbinden.

I Saw a Man

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