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Ein spektakulärer Cold Case aus dem Berlin der 30er Jahre

Ein angesehener Arzt verschwindet über Nacht. Sein Sportwagen wird verlassen am Ufer eines Sees bei Berlin gefunden. Die Mordkommission ermittelt und stößt hinter der sorgsam gepflegten Fassade des ehrenwerten Doktors auf die Spuren eines kriminellen Doppellebens, das von Berlin nach Barcelona führt. Oliver Hilmes hat die Akten dieses aufsehenerregenden Kriminalfalls aus der Spätzeit der Weimarer Republik im Berliner Landesarchiv entdeckt. Auf der Basis dieser Dokumente und angereichert mit fiktionalen Elementen, setzt er das mysteriöse Puzzle zusammen. Auf packende Weise und höchst raffiniert erzählt er von der Suche nach Wahrheit und von den Abgründen der bürgerlichen Existenz am Vorabend der Diktatur.

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Oliver Hilmes über ››Das Verschwinden des Dr. Mühe‹‹

An einem der wenigen Regentage des endlosen Sommers 2015 besteige ich die Berliner S-Bahn und mache ich mich auf den Weg zum Landesarchiv. Ich recherchiere seit einiger Zeit für ein neues Buch über die Olympischen Spiele von Berlin 1936, das im nächsten Jahr erscheinen soll.
Archivbesuche haben immer etwas Unvorhersehbares, denn man weiß nie, was einen dort erwartet. Ein bekannter Publizist hat mich vor einigen Jahren einmal verständnislos gefragt, warum ich mir denn immer so viel Mühe mit »dieser Archivarbeit« mache. »Diese Archivarbeit« – aus seinem Mund klang das irgendwie negativ, als ob das Forschen in Archiven im Grunde pure Zeitverschwendung sei. Ich finde diesen Einwand immer noch so absurd, als frage man einen Friseur, warum er Haare schneide. Für einen Historiker wie mich gehört das Stöbern in alten Akten, Papieren, Zeitungen und Fotoalben zur beruflichen DNA. Das ist mühsam und zeitaufwändig, meistens holt man sich an den verstaubten Dokumenten schmutzige Finger und nicht selten findet man keine verwertbaren Informationen. Doch mit dem richtigen Riecher und etwas Glück sind echte Archivschätze zu heben – brisante Briefe, intime Tagebücher, Fotos und andere bedeutende Papiere, die bislang völlig unbekannt waren.
Man nehme etwa die Protagonistin meines ersten Buches: Alma Mahler-Werfel. Über Almas sagenhaftes Leben existierten bereits mehrere Veröffentlichungen, als ich anfing, mich mit ihr zu beschäftigen. War nicht schon alles gesagt? Was hätte ich noch hinzufügen können? Schnell stellte sich heraus, dass alle Alma-Biographien einen – allerdings entscheidenden – Nachteil hatten: die lückenhafte Quellenbasis. Woher die Autorinnen und Autoren ihre Informationen nahmen, blieb ihr Geheimnis. Das war meine Chance! Wie konnte ich nun Alma am besten gerecht werden? Indem ich versuchte, möglichst viele unbekannte Dokumente zu finden, aus denen Alma direkt zu uns spricht. So entdeckte ich ihre verschollen geglaubten Tagebücher.
Die S-Bahn rattert über die Gleise und es bleiben mir gerade einmal siebzehn Minuten, in denen ich meine Notizen studieren kann. Menschen steigen zu, andere verlassen den Waggon. Die Fahrscheine werden kontrolliert. Ein junger Mann isst Döner Kebab. An der Station Eichborndamm steige ich aus, verlasse das Bahnhofsgebäude und gehe durch die regennasse Straße. Ein paar schmucke Häuser aus den 1920er-Jahren stehen neben hässlichen Wohnblocks, die 50 Jahre später entstanden sind. Man sieht nur wenige Menschen. Die Erde dampft. Nach etwa 200 Metern habe ich mein Ziel erreicht.
Das Landesarchiv befindet sich in einem neogotischen Backsteinbau, der zwischen 1907 und 1917 für die »Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken« errichtet worden war. Welch‘ eine Ironie der Geschichte, dass das Gedächtnis der Stadt Berlin in einem Gebäude untergebracht ist, in dem einmal etwas hergestellt wurde, das Krieg und Zerstörung über Städte, Landschaften und Menschen brachte!
Im Lesesaal liegen die vorab bestellten Akten für mich bereit. Für den heutigen Tag habe ich mir einen Bestand vorgenommen, der den etwas umständlichen Titel »Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung« trägt. Meine Hoffnung ist, dass ich dort einen spannenden Fall aus dem Sommer 1936 finde. Eine Geschichte, in der es nicht um Sport, Athleten, Hitler und Goebbels geht, sondern um die Schicksale von normalen Berlinerinnen und Berlinern während jener sechzehn Tage im August.
Immer wieder legen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Archivs neue Aktenbündel auf meinen Tisch. Manche sind mit Kordeln gebunden, um nicht auseinanderzufallen und scheinen seit Jahren oder Jahrzehnten nicht benutzt worden zu sein. War vielleicht der legendäre Kommissar Ernst Gennat der letzte, der die Blätter in Händen hielt? Um in der Papierflut nicht unterzugehen, will ich mich auf Fälle aus dem Sommer 1936 konzentrieren.
Schnell werde ich fündig. Die Geschichte der Martha Geidel, einer 36-jährigen alleinerziehenden Mutter, die sich und ihre kleine Tochter umbringt, bewegt mich sehr. Und was hat Erna Rakel dazu veranlasst, am S-Bahnhof Neukölln vor einen einfahrenden Zug zu springen? Beide Geschichten werde ich später in meinem Buch »Berlin 1936« aufgreifen.
Als nächstes nehme ich mir eine gut 100 Seiten starke Akte vor, in der es laut Kurzbeschreibung um eine Vermisstensache geht. Ich öffne behutsam den Deckel und werfe einen flüchtigen Blick auf die erste Seite. Wenige Zeilen genügen und mir wird klar, dass der Fall im Frühjahr 1932 spielt – für mein aktuelles Buchprojekt vier Jahre zu früh. Nun hätte ich die Kladde sofort wieder schließen können, um mich dem nächsten Konvolut zuzuwenden, doch meine Blicke bleiben auf dem gelbstichigen Papier hängen. Ist es Zufall, oder der Instinkt des archiverfahrenen Historikers? Ist es der »richtige Riecher«, der mich dazu bringt, die Akte nicht wegzulegen? Wie auch immer – ich blättere nun durch den ganzen Stapel, lese Seite um Seite und tauche zum ersten Mal tief in das Leben eines Mannes ein, ohne damals zu ahnen, wie lange er mich beschäftigen wird.
Wie immer, wenn ein Mensch vermisst wird, befragt die Polizei zunächst das Umfeld: Familie, Freunde und Bekannte, Nachbarn und Arbeitskollegen. Das war auch 1932 so. Insofern besteht die Akte Mühe hauptsächlich aus Verhörprotokollen und Aktennotizen, aus denen sich ein ungefähres Bild ergibt.
Berlin-Kreuzberg, im Juni 1932. Der Arzt Dr. Erich Mühe betreibt eine gutgehende Praxis in der Oranienstraße. Mühe ist 34 Jahre alt und seit gut 8 Jahren verheiratet. Seine Frau Charlotte ist nicht berufstätig. Sie liebt die schöngeistigen Dinge des Lebens, nimmt Gesangsunterricht und geht gerne in die Oper und in Konzerte. Da Erich Mühe sehr viel Geld verdient, können sich die Eheleute in politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten ein sorgenfreies Leben auf großem Fuß leisten.
An einem späten Montagabend verlässt Mühe noch einmal die Wohnung und kommt nicht mehr zurück. Sein Auto wird am folgenden Tag am Sacrower See im Südwesten Berlins von einem Gastwirt gefunden, doch vom Doktor fehlt jede Spur. Zunächst sieht alles nach einem Badeunfall aus: Mühe sei nachts zum Schwimmen an den See gefahren und dort ertrunken, eine Leiche wird allerdings nicht gefunden. Routinemäßig übernimmt die Kriminalpolizei die Ermittlungen und führt zahlreiche Verhöre. Die Beamten befragen Patienten und Hausangestellte des Arztes, die Ehefrau, deren Gesanglehrer, Kollegen und Bekannte. Jeder hat eine andere Erklärung für das, was geschehen ist. Die Polizisten tappen lange im Dunkeln. Als sicher gilt nur, dass Dr. Mühe nicht im See ertrunken ist. Derweil tun sich immer mehr Ungereimtheiten auf.
Als ich die Akte Mühe zu Ende gelesen hatte, ist mir sofort klar, dass ich darüber irgendwann einmal ein Buch schreiben werde. Was mich an diesem Fall so fasziniert, ist das ständige Wechseln der Richtung: Glaubt man für einen Moment eine Erklärung für das Verschwinden des Arztes zu haben, nimmt die Geschichte in der nächsten Sekunde eine ganz neue Wendung. Es ist ein raffiniertes Vexierspiel, in dessen Verlauf immer neue Spuren und Fährten gelegt werden. Nichts ist so, wie man zunächst glaubt.
»Das Verschwinden des Dr. Mühe« erzählt eine faszinierende Kriminalgeschichte aus der Spätzeit der Weimarer Republik. Das Buch ist aber auch eine Geschichte von Schuld und Verbrechen und darüber, wozu Menschen fähig sind.
Die vielen Namen, Adressen und lokalhistorischen Details von Frau Kornrumpfs Bandagengeschäft bis zu Aschingers Speisekarte sind penibel recherchiert, die Dialoge indes größtenteils fiktionalisiert. Bei einem Film würde man vorwegstellen: »Nach einer wahren Begebenheit.«

Kurzporträts

Die Protagonisten der Geschichte

Hugo Rasch (1873-1947)

Hugo Rasch spielt in der Geschichte rund um das Verschwinden von Dr. Erich Mühe eine dubiose Rolle. Rasch war ein gescheiterter Komponist, der seinen Lebensunterhalt als Privatmusiklehrer verdiente. Zu seinen Schülerinnen gehörte auch Charlotte Mühe, Dr. Mühes Ehefrau, die von Rasch Gesangsunterricht erhielt. Die beiden verliebten sich ineinander und begangen eine Affäre, von der der Doktor wusste. Rasch war Mitglied der »SA« und trat bereits 1931 in die NSDAP ein. Nach 1933 machte er eine steile Karriere als Funktionär in der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer. Rasch verfügte über beste Kontakte zu Joseph Goebbels und anderen NS-Politikern. Zeitzeugen vermuteten, dass Rasch mit dem Verschwinden von Dr. Mühe irgendetwas zu tun gehabt haben muss.

margarete hertel

Margarete Hertel (1896-1980)

Margarete Hertel war Erich Mühes Schwester und nach dem Tod der Eltern und des Bruders dessen engste Verwandte. 1921 heiratete sie den Verleger Robert Hertel und zog zu ihm nach Bad Gandersheim im Harz. Danach sahen sich Erich Mühe und Margarete Hertel nur noch ein paar Mal im Jahr, gleichwohl blieben sie einander innig verbunden. Margarete ist über das rätselhafte Verschwinden ihres Bruders nie hinweggekommen. 1949 starb ihr Mann und sie führte den Verlag alleine weiter.

Wolf-Heinrich von Helldorff (1896-1944)

Wolf-Heinrich von Helldorff war der Prototyp des nationalsozialistischen Machtpolitikers: brutal, skrupellos und korrupt, verfolgte er seine Gegner mit erbarmungsloser Härte. Bereits 1930 trat er in die NSDAP und die »SA« ein, ab 1935 war er Berliner Polizeipräsident. Später knüpfte er Kontakte zu Widerstandskreisen. Wegen seiner Teilnahme an der Verschwörung vom 20. Juli 1944 wurde der Graf zum Tode verurteilt. Hitler ordnete hasserfüllt an, dass Helldorff zunächst drei Hinrichtungen ansehen musste, bevor er selbst erhängt wurde.

Gennat

Ernst Gennat (1880-1939)

Der legendäre Ermittler

Ernst Gennat genießt unter Krimifans Kultstatus, gilt er doch als der erste »Profiler« weltweit. Der schwergewichtige Kommissar hat die kriminalistische Ermittlungsarbeit revolutioniert: Leichen durften nicht mehr angerührt, Gegenstände nicht weggeräumt oder Unbeteiligte an den Tatort gelassen werden, bevor nicht alle Spuren gesichert waren. Gennats Ziel war es, Material über Kapitalverbrechen gesamtheitlich zu erfassen und auszuwerten. Das war für die damalige Zeit ein überaus fortschrittlicher Ansatz. Wurden Akten bis dato nach Ablauf einer gewissen Frist vernichtet, hat Gennat die Unterlagen über interessante Verbrechen aufbewahrt. So entstand die »Zentralkartei für Mordsachen«. In kurzer Zeit konnten länger zurückliegende Fälle rekonstruiert werden, um mögliche Verbindungen zu einer aktuellen Tat erkennbar werden zu lassen. Gennat wollte, dass die Polizei aus den Fallbeschreibungen lernt.
In den etwa 2400 Akten aus Gennats Sammlung geht es um Serienmörder wie Peter Kürten, den »Vampir von Düsseldorf«, um Verbrechen gegen die Sittlichkeit, Körperverletzung, Diebstahl und Unterschlagung, Suizide, Raub und Erpressung, politisch motivierte Verbrechen und autoerotische Unfälle. In den Dossiers finden sich Zeugenaussagen, Obduktionsberichte, Gutachten, Abschiedsbriefe, Geständnisse, Fotos von Verdächtigen und Tätern sowie Zeitungsausschnitte. Die meisten dieser Delikte geschahen in Berlin, doch der Kommissar hat auch außergewöhnliche Fälle aus dem Reich und dem benachbarten Ausland registriert. Die »Akte Mühe« ist Teil von Ernst Gennats Sammlung.

Das Berlin des Dr. Mühe

Karten und Bilder

Autorenfoto Oliver Hilmes

Oliver Hilmes - Biografie

Oliver Hilmes, 1971 geboren, wurde in Zeitgeschichte promoviert und arbeitet als Kurator für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Seine Bücher über widersprüchliche und faszinierende Frauen „Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel“ (2004) und „Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner“ (2007) wurden zu großen Verkaufserfolgen. Zuletzt erschienen „Liszt. Biographie eines Superstars” (2011), „Ludwig II. Der unzeitgemäße König” (2013) und „Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“ (2016), das in viele Sprachen übersetzt und zum gefeierten Bestseller wurde.

Weitere Bücher von Oliver Hilmes