Überzeuge dich hier selbst mit unserer Leseprobe:
Juni
Komm schon, komm schon, komm schon!
Ungeduldig drückte ich auf den Aufzugknopf. Zweimal, dreimal, viermal. Als wenn man in der Geschichte der Menschheit schon jemals von einem Fahrstuhl gehört hätte, der schneller kommt, nur weil man hektisch auf dem Knopf rumhämmert. Als würde der Aufzug sagen: Klar, Emma, wenn du es heute Morgen eilig hast, dann mache ich für dich einfach ein bisschen schneller als sonst.
Und ja, ich war verdammt in Eile, ins Büro zu kommen. Ich hatte verschlafen. Zusätzlich zu einem ordentlichen Kater. Genauso wie meine Freundin, Mitbewohnerin und Arbeitskollegin Isabella – Isy –, die allerdings gelassen neben mir stand und mich nur kopfschüttelnd beobachtete.
»Jetzt beruhige dich doch mal. Dann sind wir halt ein bisschen spät dran.«
Sie hatte leicht reden. Sie arbeitete schon viel länger als ich als studentische Mitarbeiterin in der New Yorker Großkanzlei Donovan & Thompson und hatte kaum zu befürchten gefeuert zu werden. Sie war superclever und in der Kanzlei allseits geschätzt. Ich selbst war nur die unscheinbare Deutsche, die erst vor wenigen Tagen hier angefangen hatte und genauso schnell wieder rausfliegen konnte, wie sie eingestellt worden war. Und das wäre eine Katastrophe, denn wie sollte ich ohne Job mein Jahr in New York finanzieren? Das Leben hier war um ein Vielfaches teurer als zu Hause in Frankfurt. Das war die harte Realität.
Ich versuchte, mich mit dem Gedanken aufzumuntern, dass die harte Realität in New York trotzdem einfach so viel cooler war als anderswo. Selbst mit Kopfschmerzen und pelzigem Geschmack im Mund.
Wir – das heißt das Energiebündel Isy und ich – waren gestern Abend in einer Bar in der Upper West Side gelandet und total versackt. Alleine wäre ich nie auf die Idee gekommen, an einem Sonntagabend auszugehen, obwohl eine anstrengende Arbeitswoche auf uns wartete, aber Isys Überzeugungskraft konnte man schwer widerstehen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es auch durch.
Endlich gingen die Aufzugtüren auf, und schnell stiegen wir ein. Ein Blick in den Spiegel an der Rückwand bestätigte, dass ich noch schrecklicher aussah, als ich mich fühlte. Lag vielleicht auch an der fahlen Fahrstuhlbeleuchtung. Meine grünen Augen standen in einem merkwürdigen Kontrast zu meiner grauen Haut. Ich wischte mir ein paar Mascarareste vom Lid und drehte meinem Spiegelbild den Rücken zu.
Isy sah aber auch nicht viel besser aus. Normalerweise war sie ein echter Hingucker mit ihren großen blauen Augen, vollen Lippen und der tollen Figur, die die Männer scharenweise dazu brachte, sich nach ihr umzudrehen. Sie war immer perfekt angezogen, geschminkt und gestylt, aber heute stand ihr blonder Bob wie ein Kaktus in alle Richtungen ab, und als könnte sie meine Gedanken lesen, strich sie mit einer Hand darüber, in dem fruchtlosen Versuch, ihre verstrubbelten Haare zu glätten. Das war der Nachteil an einem Bob: Er musste immer perfekt geföhnt sein. Ich konnte meine langen braunen Haare wenigstens zu einem Dutt zusammennehmen und so halbwegs ordentlich aussehen. Halbwegs.