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Nachwort zu den Lyrikbänden von Louise Glück

Anmerkung der Übersetzerin Ulrike Draesner

Die Übertragung einer Dichterin, die noch keine Stimme im Deutschen hat, bindet in besonderem Maß an Treue. Ein zweisprachig Englisch-Deutsch gedruckter Gedichtband andererseits schenkt besondere Freiheit. Viele werden das englische Original mitlesen. In der Übersetzung suchen sie zweierlei: Hilfe, was komplexere Sinnzusammenhänge angeht – und eine deutsche Lösung, die anders ist als das, was jedem als erstes einfällt. Wie die Übersetzung von „Privileg“ mit Privileg, von ignorieren mit ignorieren etc.
Wie beidem gerecht werden?
Das Übersetzen von Gedichten ist bekanntlich „nicht möglich – aber“. „Aber“ bezeichnet die notwendige Kluft. Bei jeder Übersetzung kommt Verschiebung ins Spiel. Beim Übersetzen von Gedichten aber folgt sie, wie die Poesie selbst, mehreren Registern: der Semantik, der Etymologie, der Metaphorik, den „Höfen“ der Wörter (ihren Konnotationen), ihrer Rhythmik, der Lautgestalt, der Syntax und der Art und Weise, wie ihre Beweglichkeit genutzt wird (oder gerade nicht), dem Auseinandertreten von Laut- und Schriftgestalt, der poetischen Tradition der jeweiligen Sprache u.a.m.
Ich sehe ein Gedicht, das ich übersetze, in Farben vor mir. Die wie in einem Abakus Zeile um Zeile aufgereihten Wörter sind bunt. Sie stehen, angeordnet in einer durchsichtigen Wand, vor mir – das Gedicht formt sich vor dem inneren Auge. Meine Aufgabe: Ein Gebilde gleicher (nicht identischer) – nein, resonierender Art auf Deutsch zu schaffen. Die Farben werden sich verändern. Ich ziele auf Ähnlichkeit, das versteht sich von selbst. Entscheidend aber ist, was als „ähnlich“ gilt. Ähnlich kolloquial? Ähnlich assonant? Ähnlich wiederholend? Ich werde, um bei diesem Beispiel zu bleiben, Assonanzen und Anklänge verlieren (Glück reimt selten – tactless excess – ich folge ihr, semantisch möglichst nahe, doch gebe dem Reim die größte Wichtigkeit). Reime unterstreichen Über-Harmonien bei Glück. An einer Stelle bot sich im Deutschen die Möglichkeit, dies zu tun, obwohl das Englische nicht reimt. Ich habe mich für den Reim entschieden, weil jeder Ersatz durch andere Substantive künstlich geklungen hätte – und die Ironie am Platz schien. Übersetzung ist Interpretation. Mit jedem Atemzug.
Glücks Gedichtbände stellen aus Einzelgedichten komponierte Gedichtkörper dar. Die einzelnen Poeme ergeben seine Glieder. Gemeinsam formen sie den beweglichen Körper namens Averno.
Das einzelne Gedicht steht in Verbindung zu den Texten vor und hinter ihm. Glück arbeitet mit Wiederholungen und Schlüsselbegriffen. Ich habe mich bemüht, das Wort „remember“ immer als „erinnern“ zu übersetzen. Das Wort „terrible“ hingegen, in dem Terror widerklingt (ein stärkeres Wort als Schrecken), variiere ich. Die Wortgebrauch von „terrible“ und „schrecklich“ überschneidet sich, ist aber nicht identisch. Ich sah die Möglichkeit, mit anderen Wörter präziser zu werden.
Gottfried Benn war der Überzeugung, dass Gedichte im Wesentlichen aus Substantiven bestehen. Substantive machten ihre Kraft aus, ihren spezifischen Wert. Darüber, wie genau er sich an diese Poetologie hielt, kann man streiten. Für Louise Glück trifft sie in hohem Maß zu.
Zudem arbeitet sie gern mit syntaktischen Parallelismen und dem Präsenspartizip. Das Ziel: Flächigkeit. Nicht zu viel Kausalität. Gleichzeitigkeit – die Verwischung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Gedichte bauen Jetzt-Universen. Die Substantive fungieren darin als Haltepunkte. Im Deutschen ließen sich die parallelen Satzgebilde der Verse ohne Mühe variieren. Da es anders als im Englischen weiterhin Kasusendungen gibt, können Subjekt und Objekt den syntaktischen Platz tauschen. Ich habe dies vermieden. Glücks Gedichte beruhen auf einer gewissen Monotonie. Ihre Stimme führt die Trauer nicht leichtfertig im Mund – sie drückt sich auch in der Nichtweite der Sprünge, in der Zurückhaltung bei der Metaphernbildung, in den Sprechgesten des Fragens und Zweifelns aus. Die Autorin arbeitet „im einfachen Satz“, weil zu viel Variation den Gang des Gedichts stören würde. Glück erzählt durch psycho-logische Verschiebung. Der Mythos um Persephone, selbst eine vielfach variierte Geschichte, wird in Averno mehrfach aufgegriffen und uminterpretiert. Nicht jedes der Persephonegedichte nennt Persephone auch im Titel. Wer nach ihr sucht, kann dem Namen folgen und muss doch auch in den „Untergrund“ tauchen – und dort suchen, wo der Name nicht (mehr) ausgesprochen wird.
Kaum Reime, Anklang an Gesprochenes. Wir werden in einen Innenraum geführt, in dem eine Stimme mit sich, aber an uns gerichtet, über Leben und Sterben spricht. Dem Tod geht sie nach, dem Frau- und Mädchensein, dem brennenden Feld, der Auslöschung (auch) der Natur. Resonanzen entstehen durch das raupenartige (gliederkörperliche) Voranschreiten des Gedankens auf der Seite: eine Entfaltung der Logik des Denk-Empfindens im Fortgang der klein rhythmischen, dabei aber stets wechselnden Einheiten der (Einzel)Gedichte.
Ich freute mich, als sich in Glücks Gedicht nach Puschkin ein Metrum fand, dem ich folgen konnte. Doch keiner der traditionellen lyrischen Parameter erweist sich bei Glück als verlässlich. Die gebundene Form der Texte, die sich dem ersten Blick darbietet (Verse, Strophen), entpuppt sich bei näherer Untersuchung als zerbrochen. Die Wiederholung der Wörter Schönheit, Zerstörung, Tod macht misstrauisch. Die Bedeutung dieser Wörter wird im Lauf des Bandes –
etwa mit Hilfe der Gestalt des Hades und seines Tons gegenüber Persephone – untersucht.
Ein Vers des Bandes Averno ist auch im Original deutsch: Die Erde überwältigt mich. Er wird unmittelbar im Anschluss von Glück selbst ins Englische übersetzt: The earth defeats me. Für Fälle dieser Art findet sich in der übersetzerischen Werkzeugkiste eine präzise, zugleich elegante Lösung: man setzt den deutschen Satz in das Englische, das der Originaltext anbietet. Und stellt die Übersetzung ins Deutsche darunter.

Original: Die Erde überwältigt mich.
The earth defeats me.

Übersetzung: The earth defeats me.
Die Erde überwältigt mich.

Damit wäre nachgeahmt, was das Originalgedicht prima facie tut: es unterbricht den Sprachfluss durch einen Satz in einem fremden Idiom. Danach kehrt es in die erzählende Stimme zurück.
Ich habe mich für eine andere Lösung entschieden.

Die Erde überwältigt mich.
Die Erde überwältigt mich.

In Glücks Gedichten ist vielfach von Gewalt und ihren Langzeitfolgen die Rede. Glück ist eine amerikanische Dichterin mit jüdischen Wurzeln. Hie und da wird, auch in dem Band Wilde Iris etwa, spürbar und sichtbar, dass wir in einer Welt nach der Shoah leben. Der Wechsel ins Deutsche, die Sprache der Täter, bei dem Wort „Überwältigung“ ist kein Zufall. Daher habe ich mich entschieden, diesen Satz auf Deutsch stehen zu lassen. Glück hebt ihn zusätzlich durch Kursivierung hervor. Man kann dies als Stimmanweisung auffassen. Ein Gesang? Eine Klage? Ein Schrei? Dem kursiven deutschen Satz folgt derselbe Satz, recte, gesprochen von der Stimme, die wir aus dem Gedicht bereits kennen. Ihr Satz ist ein Echo des vorangehenden. Das gesamte Gedicht – so der Gedanke, den diese Stelle anregen mag – ein Echo auf eine nicht nur individuelle Überwältigungs- und Morderfahrung.
Aus dem Kontext des gesamten Bandes wird deutlich, dass eine weibliche Stimme spricht. Diese Stimme allerdings ist sich ihrer Weiblichkeit nicht sicher. Was bedeutet sie? Sie setzt sich Masken auf, spielt Personen (das lateinische Wort für Maske), schlüpft in Rollen. Gender ist keine scharf zu ziehende Linie. Das Deutsche mit seinen drei Geschlechtern bietet andere Möglichkeiten, dies auszudrücken, als das Englische.
Ein Gliederkörper bewegt sich kollektiv. Jedes Einzelgedicht in Averno ist, was es ist – und etwas hinzu. Es steht über die Seitengestalt hinaus in Resonanz. Resonanz ist, neben dem Einsatz der Hauptwörter, das zweite dichterische Prinzip in Glücks Werk. Es resonieren: Mord, Mythos, Schmerz. Gender- und Familienzwang. Geschichten der Weiblichkeit, der „Natur“. Das Wort „remember“ bedeutet wörtlich, Glieder wieder zusammenzusetzen, wieder zu einem Körper aufbauen. Als Leitmotiv zieht sich diese gedankliche (mind) und poetische Bewegung durch Averno und Wilde Iris. Das deutsche „erinnern“ beleuchtet einen anderen Vorgang. Nicht Glieder werden zusammengestellt, sondern etwas wird ins Innere gehoben und damit dem geistigen Auge, dem Ich präsent gemacht.
Glück lotet die etymologischen und emotionalen Gründe ihrer Substantive aus. Anguish – dieses notorisch unübersetzbare englische Wort. Herzenspein, Seelenqual, Angst, Bedrückung, Trauer, Wut – alles in einem. Furcht und Schrecken noch hinzugemischt. Wie es übersetzen? (s. das Gedicht October/Oktober, das Glück, wie es heißt, in Reaktion auf den 11. September 2001 schrieb).
Diesen bekannt schwierigen Fällen stehen die scheinbar einfachen gegenüber. Hope – Hoffnung, sagte das Vokabelheft in der Schule. Mitunter bin ich der gemeinsamen Wortwurzel gefolgt. Hie und da habe ich mich für eine lectio difficilior entschieden, also für den zweiten, weniger offensichtlichen Weg. Hope ist in dem Gedicht Prisma als Zuversicht übersetzt. Zum einen aus lautlichen Gründen:

Sie sprach voller Zuversicht
um die Aufmerksamkeit des Blitzes auf sich zu ziehen.

Zum anderen, um in einem Text, der von prismatischen Brechungen handelt, eben diese Brechungen auch im Akt des Übersetzens zu vollziehen. Was unterscheidet Hoffnung von Zuversicht? Da im Englischen Zuversicht auch confidence wäre, was den Gedanken des (Selbst)Vertrauens einführt, könnte das deutsche „Zuversicht“ noch Teil des englischen „hope“ sein – es belegt eine Position zwischen den englischen Wörtern. Die emotionalen Raster, die Sprachen begrifflich ausbilden, unterscheiden sich gern voneinander. Hier stoßen wir auf solch einen Unterschied.
Die Übersetzung „Zuversicht“ und „ziehen“ verbindet nicht nur die beiden Versenden, sondern schlägt auch eine Brücke zu „Blitz“.
Blitz, ziehen, Zuversicht.
Zerstörung, Bewegung, Ausblick.
In nuce wird ein poetologisches Programm erkennbar. Glücks prismatische Gedichte sprechen nicht nur von der Brechung der Welt und ihrer Bewohner an verschieden geschliffenen sprachlichen, historischen, mythischen und familiären Flächen – sie selbst stellen derartige Flächen dar.

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