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Michael Miersch, Henryk M. Broder, Josef Joffe, Dirk Maxeiner »Früher war alles besser«

„Der erste Versuch, Altersstarrsinn in Literatur zu verwandeln“


Jeder von ihnen darf getrost schon für sich allein in Anspruch nehmen, ein Schwergewicht des deutschen Journalismus zu sein – doch wenn alle vier gemeinsam in Aktion – oder gar auf die Bühne – treten, bleibt kein Stein auf dem anderen: Michael Miersch, Henryk M. Broder, Josef Joffe und Dirk Maxeiner haben für den Knaus Verlag ein Buch mit dem vielsagenden, jedoch von den Autoren selbst genüsslich ad absurdum geführten Titel „Früher war alles besser“ geschrieben. Drei von ihnen waren zu Gast im Brüsseler Bertelsmann-Verbindungsbüro. Dort, an der Chaussée d'Etterbeek im Herzen des europäischen Regierungsviertels, lasen sie aus ihrem jüngsten Gemeinschaftswerk, einem laut Untertitel „rücksichtslosen Rückblick“. Oder, um es mit den Worten von Michael Miersch zu sagen: „dem ersten Versuch, Altersstarrsinn in Literatur zu verwandeln“. Es waren tiefe Selbstreflexionen wie diese und scharfzüngige Kommentare voller Spontaneität auf der liebevoll im Stil der ausgehenden 60er Jahre gestalteten Bühne, die den Abend zu weit mehr als einer Lesung machten, weil die Akteure sich beileibe nicht auf das Lesen beschränkten.

Er selbst sei ähnlich alt wie die meisten Vertreter dieses literarischen Quartetts, und er teile von daher viele ihrer Erfahrungen und Erinnerungen an längst vergessene, aber umso unauslöschlicher eingebrannte Dinge wie die „gute Butter“, den „Toast Hawaii“ oder den „falschen Hasen“, begrüßte Elmar Brok, Senior Vice President Media Development der Bertelsmann AG, die drei in Ehren ergrauten Journalisten – Josef Joffe als Vierter im Bunde war leider verhindert – und seine rund 70 Gäste im Brüsseler Bertelsmann-Büro. Unter ihnen waren einige Mitglieder des Europäischen Parlaments und mehrere Kabinettsmitglieder der Europäischen Kommission sowie Kollegen aus anderen Brüsseler Vertretungen. Menschen also, die den Rollentausch sicherlich einmal genossen haben, dass sie den Journalisten zuhören und ihnen dann auch noch beim anschließenden Empfang ein paar Fragen stellen konnten.

Subjektivität plus Lustprinzip


Fragen zu einem Buch, in dem die vier Autoren mal liebevoll-ironisch, mal böse-polemisch einen der Sätze entlarven, den wohl jeder unter 40 mindestens einmal gehört – und jeder über 40 mindestens einmal ausgesprochen hat: „Früher war alles besser.“ In kurzen Beiträgen von A bis Z blicken die Journalisten zurück auf all das, was vermeintlich besser war, und kommen gleich zu Beginn zu dem Schluss, dass wohl vor allem eines wirklich besser war: „Man war jünger.“ Und so waren es auch sentimentale Anflüge wie die Erinnerungen an die erste Liebe, die erste Reise oder die erste eigene Wohnung, die die Vier zu diesem Buch animiert haben, erklärte Michael Miersch, der am Dienstag auf der kleinen Bühne die Moderatorenrolle übernahm. Es ist eine Sammlung persönlicher Erinnerungen an „alte Zeiten“ geworden, ein, so heißt es im Buch, ein „Lexikon der eigenen Vergangenheit“. Die Methode der vier Autoren umriss Miersch einfach und klar mit den Worten „Subjektivität plus Lustprinzip“.

Für die Vorleser in Brüssel, für Hendrik M. Broder, Jahrgang 1946, sowie die 1953 beziehungsweise 1956 geborenen Dirk Maxeiner und Michael Mierisch nimmt die bewusst erlebte Vergangenheit – und damit der Rückblick im Buch – mit den 60er Jahren ihren Lauf. Und so beginnt ihr Gemeinschaftswerk, wie sollte es anders sein, mit „A“ wie Adenauer, den sie glatt zum „coolsten Politiker der Nachkriegszeit“ erheben, wohl wissend, dass der erste Bundeskanzler selbst mit dem Begriff „cool“ nur wenig hätte anfangen können. Über das längst verschollene Phänomen des Per-Anhalter-Fahrens, später als Trampen noch eine Zeit am Leben erhalten, geht ihr Lexikon weiter über den autofreien Sonntag und den als „Ente“ berühmt gewordenen Citroen 2 CV, über DDR und D-Mark, über FKK und Fondue bis hin zu Käse-Igel, Muckefuck, Tanzstunden, Vorwärtsverteidigung, Wählscheibentelefonen und Winnetou. Es sei, so die Autoren einleitend, „eine kleine Kultur- und Sozialgeschichte Deutschlands“ geworden.

Die Zukunft war früher auch viel besser


Am Ende dieser herrlich willkürlichen Sammlung, in der sich dennoch so viele Leser wiederfinden oder gar -erkennen werden, kommen Broder, Miersch, Joffe und Maxeiner zu dem Schluss: Vieles war nicht nur nicht besser, es war vielmehr deutlich schlechter. So fragen sie eher rhetorisch: „Wir sind die erste Generation, die Frieden, Freiheit und Wohlstand als Dauerzustand kennengelernt hat. (…) Wer möchte ernsthaft mit den Lebensumständen seiner Großeltern tauschen oder gar mit deren Großeltern?“ Dann zitieren die Journalisten wie zum schlagenden Beweis den amerikanischen Schriftsteller P. J. O'Rourke, nach dessen Überzeugung es nur eines Wortes bedürfe, um die Mär von der guten alten Zeit zu widerlegen: Zahnheilkunde. Und am Ende einigen sich die Vier, die beteuern, sie seien nicht gleich, sondern hätten nur manches gemein, mit Karl Valentin darauf, dass „die Zukunft früher auch viel besser“ war.

Solch ein Buch zu lesen und darüber zu schmunzeln, ist das eine. Es zu hören, wenn die Autoren selbst daraus lesen, und dann auch immer wieder ertappt, befreit oder entlarvt laut zu lachen, das andere. In diesen Genuss kamen die Gäste in Brüssel. Pointiert und im wahrsten Sinne des Wortes abwechslungsreich trugen im Wechsel Miersch, Broder und Maxeiner aus ihrem Werk vor. Was nur noch getoppt werden konnte durch den spontanen Dialog zwischen den Dreien mit dem Publikum. Das hatten die Journalisten immer im Blick und passten ihren Vortrag entsprechend an. Schreibt Henryk M. Broder beispielsweise im Buch unter dem unsäglichen Titel „Ehehygiene“, dass der Aufklärungsfilm „Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens“ aus dem Jahr 1967 in etwa so stimulierend wie eine „Heidi“-Geschichte gewesen sei, so verglich er den Film in der Lesung kurzerhand mit der Wirkung einer Sitzung des Europäischen Parlaments. Und als sein Kollege Miersch über die Ränder der Lesebrille hinweg im Buch nach dem Kapitel „Schwerarbeit“ suchte, legte Broder trocken nach: „Ist in Brüssel abgeschafft.“


Markus Harbaum
mit freundlicher Genehmigung © BeNet Gütersloh, 2010