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SPECIAL zu Michael Kleeberg

Der Tod der Ibisse

Seiteneingänge in den neuen Roman von Michael Kleeberg

Von Dirk Knipphals

Es gibt einen Haupteingang in diesen neuen Roman von Michael Kleeberg: der Eingang des amerikanischen Hospitals im Pariser Stadtteil Neuilly am Boulevard Victor Hugo, das dem Roman seinen Haupthandlungsort und seinen Titel gegeben hat. Dieses Krankenhaus gibt es tatsächlich, und überhaupt lässt sich das Buch wie eine große Verknüpfung lesen oder besser: wie ein Zusammenschmelzen von in der Realität weit auseinander liegenden Orten – Paris mit seinen Friedhöfen und Parks, die US-amerikanische Ostküste, die verschiedenen Landschaften des Irak.

Aber zurück zum Haupteingang: Gleich zu Beginn beschreibt Kleeberg das lebhafte Klinikgewimmel, das im Eingangsbereich des Gebäudekomplexes herrscht: »Schwarze Diplomaten im dreiteiligen Anzug eskortierten bunt gekleidete Frauen zum Empfangstresen, Golf-Araber in langen Gewändern und mit Aktenkoffern telefonierten oder rauchten draußen vor der Glastür, weißgekleidete Ärzte und Pfleger mit Stethoskop in der Brusttasche über dem Namensschild huschten vorüber …« Ein Krankenhaus ist ein Ort der Schicksale. Zwei Schicksale greift der Erzähler heraus: das der Französin Hélène, die mit Hilfe der modernsten Reproduktionsmedizin trotz ihrer Sterilität ein Kind zu bekommen hofft; und das des US-amerikanischen Soldaten David Cote, der aus der Operation Desert Storm, dem Golfkrieg des Jahres 1991 also, mit einem Kriegstrauma zurückkehrte, das er hier, im amerikanischen Hospital, kurieren soll.

In einer hochdramatischen Szene lässt Michael Kleeberg diese beiden Figuren zu Beginn des Romans ineinander laufen: Direkt zu Füßen von Hélène bricht David Cote zusammen. Seine psychischen Störungen sind immens. Der amerikanische Soldat und die französische Frau werden sich von da an regelmäßig am selben Ort wiedersehen, im Rhythmus von Hélènes immer wieder neu unternommenen und immer wieder neu scheiternden Versuchen, sich künstlich befruchten zu lassen. Nach zunächst Hoffnung versprechendem Beginn geht der Embryo stets nach kurzer Zeit wieder ab – das neue Leben will sich nicht in Hélènes Gebärmutter »festkrallen«, wie es an einer Stelle heißt. Zu einem großen Teil besteht der Roman aus den sich entwickelnden Gesprächen dieser beiden leidgeprüften Figuren.

Er ist ihr eine willkommene Ablenkung während der zermürbenden Wartezeiten vor den Untersuchungen; zunehmend wird er ihr aber auch zu einem Schutzengel, wenn auch einem unglücklichen. Und sie bietet ihm, einem sonst sehr verschlossenen Menschen, Gelegenheit, von sich zu erzählen – und dabei sich selbst sein eigenes Leben zu erklären. In der schwierigen Kunst, Dialoge wiederzugeben, erweist sich Michael Kleeberg erneut als Meister. Er wendet ein literarisches Verfahren an, das er in seinen vorangegangenen Romanen Ein Garten im Norden (1998), Der König von Korsika (2001) und Karlmann (2007) perfektioniert hat: Das gesprochene Wort steht nicht für sich, sondern wird als Mosaikstein eingebunden in die Schilderung innerer Vorgänge und äußerer Situationen. So haben diese Dialoge stets etwas Handlungstreibendes.

Aber betrachten wir neben dem Haupteingang auch die zahlreichen Seiteneingänge in diesen Roman, die der Schriftsteller Michael Kleeberg so sorgfältig angelegt hat. Nicht ihre Anzahl ist überraschend. Wohl aber, aus welch unterschiedlichen Lebensbereichen sie stammen. Wie bei den bedeutungstragenden Orten bringt Michael Kleeberg sehr weit auseinander liegende Sphären zusammen.

Da wäre zunächst der Seiteneingang der Reproduktionsmedizin: In allen Einzelheiten schildert Michael Kleeberg die Entnahme der Eizellen, ihre Einpflanzung, die begleitenden hormonellen Maßnahmen – und auch, was das alles in der Psyche der zu einem störanfälligen Bestandteil eines medizinisch-technischen Prozesses degradierten Frau bewirken kann. Wer diesen Roman liest, weiß sehr viel genauer als vorher über diesen medizinischen Zweig Bescheid.

Das verweist auf ein Charakteristikum im Schreiben des Autors. Bei all seiner literarischen Verve fußt es auf einem mehr als soliden Fundament akribischer Recherche. Das gilt für Kleebergs großen Roman Ein Garten im Norden, in dem sich die Hauptfigur ein anderes Deutschland erträumen darf – mit einem unpathetischen Philosophen Martin Heidegger etwa oder einem lebenslang demokratisch gesinnten Komponisten Richard Wagner –, aber eben auf der Grundlage genauer historischer Studien. Auch der historische Roman Der König von Korsika strotzt vor historischem Wissen. Und anhand von Karlmann, dem bislang letzten Roman, könnte man mit Hilfe der beschriebenen Details gleich die ganzen achtziger Jahre der Bundesrepublik Deutschland rekonstruieren. So beeindruckend genau wird in Das amerikanische Hospital nun von der Reproduktionsmedizin erzählt.

Dann wäre da als zweiter Seiteneingang der Krieg: Anhand von David Cote erfährt der Leser, wie wichtig soldatische Traditionen in der US-amerikanischen Gesellschaft sind. Cote ist der Spross einer Soldatenfamilie, schon sein Großvater kämpfte an einer erbittert geführten Schlacht im Ersten Weltkrieg mit. Es erscheint als Cotes vorgegebener Lebensweg, solche Traditionen fortzusetzen. Wie es Michael Kleeberg gelingt, nun diese entkernten Erzählungen des Soldatischen mit den schrecklichen Bildern des realen Krieges eben nicht einfach nur zu kontrastieren, sondern vielmehr zu umgeben und auch zu vervollständigen, ist erzählerisch von großer handwerklicher Raffinesse. Die Grausamkeit des Krieges braucht hier gar nicht in allen Einzelheiten ausgebreitet zu werden, diesem Schriftsteller genügen kurze, eindringliche Szenen – vom Sterben einiger Ibisse, die auf einem Ölteppich in der Wüste landen, den sie irrtümlich für einen See gehalten haben; aber auch von dem Beschuss eines irakischen Dorfes. Das amerikanische Hospital ist kein Kriegsroman, aber ein Roman, der auf die modernen Kriege nach dem Ende des Kalten Krieges reagiert, ist er durchaus.

Michael Kleeberg hat Auswirkungen dieses neuen Typs von kriegerischen Auseinandersetzungen miterlebt. Seit dem Jahr 2002 sammelte er Erfahrungen im Libanon, sein Band Das Tier, das weint (2004) zeugt davon. Auf diesen Exkursionen hat Kleeberg sich mit vielen Kriegsveteranen getroffen, weiteres Material boten die Recherchen des US-amerikanischen Journalisten Seymour Hersh. Man kann hier übrigens gut studieren, wie gelingendes literarisches Schreiben funktioniert – mit Abstand! Seine Erfahrungen hat Michael Kleeberg nämlich keineswegs in eine Geschichte, die direkt im Umfeld des Nahen oder Mittleren Ostens spielt, umgesetzt. Sondern er hat sie zum Bestandteil seines literarischen Imaginierens gemacht, zu einem Material, das den Szenen und Figuren Dichte und Hintergrund gibt.

Als dritter Seiteneingang dient die moderne US-amerikanische Lyrik: Über sie, vor allem die Gedichte der Autorin Elizabeth Bishop, bringt der Erzähler Hélène und David Cote zusammen. Verse werden immer wieder angesprochen und teilweise ausgedeutet. Diese Nähe zur Poesie steht auch für die Kraft, die dieser Autor der Sprache und der Literatur als ihres differenziertesten Ortes insgesamt zutraut. Zwar bietet die Poesie in diesem Roman keine direkte Möglichkeit, den Bedrängnissen der Kriegserinnerungen und der durch die technische Medizin hervorgerufene Selbstentfremdung zu entkommen. Aber zumindest die Möglichkeit einer Gegenwelt, eines (wenigstens dies!) authentischeren Ausdrucks der eigenen Verlorenheit bietet sie eben doch.

Und dann ist da noch Paris; die französische Hauptstadt stellt den vierten Seiteneinstieg in diesen Roman. Michael Kleeberg hat selbst lange in Paris gelebt; 1986 zog er, damals 27-jährig, nach einem studentischen Nomadenleben – Hamburg, Rom, Amsterdam – dorthin. Er ist ein Autor, der einer der Zentralmaximen der modernen Romanpoetik – Schreibe, was du kennst! – stets gefolgt ist. Wie gut er sich im Paris der frühen neunziger Jahre auskennt, zeigt sich in diesem Roman mit jedem Spaziergang. Gegen Schluss wird die Stadt in gewisser Weise auch selbst zum Akteur: Es ist mal wieder Generalstreik, wir befinden uns in der Zeit der harten politischen Auseinandersetzungen unter der Ägide des gaullistischen Ministerpräsidenten Alain Juppé, nichts geht mehr im öffentlichen Verkehr, und so müssen sich Hélène, die gerade beschlossen hat, keinen weiteren Befruchtungsversuch mehr über sich ergehen zu lassen, und David Cote, der sich bis zum Ende seiner Dienstzeit mit Schreibtischjobs durchhangeln will, durch die Straßen treiben lassen – und, siehe!, die Stadt nimmt sie in ein neues Leben auf. Der amerikanische Soldat darf einmal Held spielen, Hélène fährt auf der Seine ihrem bisherigen Lebensentwurf davon.

Wie passen alle diese Bereiche zusammen? Auf meine Frage hin, welcher Handlungsstrang zuerst dagewesen sei, der um Hélène oder der um den Soldaten, antwortet Michael Kleeberg in einer E-Mail: Hélène. Deren Geschichte habe er seit etwa dem Jahr 2001 erzählen wollen, aber sie habe mit ihrem Schicksal erst auf David Cote warten müssen, bis beide parallel erzählbar geworden seien. Auf den amerikanischen Soldaten kam Kleeberg dann erst während der Karlmann-Niederschrift, etwa 2006 oder 2007. In der Tat stützen diese beiden Geschichten einander gegenseitig. Es geht hier um zwei Figuren in einer Lebenskrise: Hélène, die sich von den Glücksverheißungen der modernen Medizin allmählich verabschieden muss; und David Cote, der die soldatischen Traditionen seines Landes nicht mit seinem eigenen poetischen – und das heißt eben stets: selbstreflexiven – Bewusstsein zusammenzubringen vermag. Der Roman lebt von der Waghalsigkeit der Konstruktion, der Detailgenauigkeit der Situationen und dem inneren Reichtum an Bildern, mit denen Michael Kleeberg diese Lebenskrisen in Szene zu setzen versteht. Die tiefe Verzweiflung des amerikanischen Soldaten vermag er ebenso glaubhaft zu machen wie die zermürbende Reise in die Hoffnungslosigkeit von Hélène – und dann (und das ist nun wirklich ganz große Kunst) gelingt es ihm auch noch zu beglaubigen, dass beide Figuren diese Episoden ihres jeweiligen Lebens auch wieder hinter sich lassen können.

Anhand dieser beiden, aus dem Eingangsbereich des amerikanischen Hospitals herausgegriffenen Schicksale erzählt Michael Kleeberg zugleich davon, wie fragwürdig jeglicher Machbarkeitsglaube in unserer Epoche erscheint: Ihre Lebenskrisen müssen die Figuren schon selbst bearbeiten. Und genauso, wie jedes einzelne dieser beiden Lebensschicksale allein möglicherweise zu sehr zu einer Fallstudie geworden wäre, genauso würde dieser Geschichte viel fehlen, wenn es die Hall- und Resonanzräume der Lyrik und der Metropole Paris nicht gäbe.

Aber vielleicht ist, wie die Dinge hier zusammenpassen, auch gar nicht die richtige Frage. Vielleicht sollte man eher danach fragen, was diese so ungewöhnliche Konstellation alles ermöglicht. Und das sind wieder einmal so hoch gespannte Situationen, wie sie bereits die vorangegangenen Bücher Michael Kleebergs auszeichnen. Wer etwa in Der König von Korsika die Ankunft des (Anti-)Helden am Hof von Versailles gelesen hat, wird die Mischung aus Verwirrtheit und Faszination, die in den Beschreibungen ganz en passant mitgegeben wird, kaum vergessen. In Karlmann ist es, wieder nur ein Beispiel unter vielen, dieser hoch komplexe und zugleich so schlichte Beginn, an dem Michael Kleeberg allein aus der Schilderung des ersten Wimbledon-Endspiels von Boris Becker nicht nur die Hauptfigur Karlmann Renn, sondern zugleich auch die Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik zu charakterisieren versteht. In Das amerikanische Hospital gibt es ähnlich waghalsige und herausfordernde – und dabei ähnlich bewusst gestaltete und gestalterisch geglückte Szenen, etwa die, in der der amerikanische Soldat am Tod irakischer Kinder schuldig wird, weil er ihnen helfen will.

Das amerikanische Hospital ist, alles in allem, eben keine Collage, zusammengesetzt aus unterschiedlichen thematischen Bereichen. Indem Michael Kleeberg die verschiedenen Themen aufeinandertreffen lässt, inszeniert er so etwas wie eine Initialzündung: Auf dem für einen Roman knappen Raum von etwas mehr als 200 Seiten beschreibt er mit großer Kunst die komplexe emotionale Reise zweier Figuren. Und es gibt in diesem zunächst schmal wirkenden und sich dann dem Leser auf so vielfältige Weise öffnenden Roman noch eine dritte emotionale Reise, die des Erzählers. Das Erzählen beginnt im Gestus des sehnsuchtsvollen Beschwörens des Gewesenen, mit einem lustvoll-schmerzhaften Hinabtauchen in die tiefen Brunnen der Vergangenheit. Die konkret in den neunziger Jahren angesiedelte Handlung wird so in eine weite Ferne gerückt.

Darauf antwortet am Schluss des Romans eine Pointe, die einen erzählerischen Rahmen konstruiert; mehr sei hier vorab nicht verraten. Nur noch so viel: Die Pointe dreht das Motiv des Hinabtauchens in ein Abschiednehmen. Wie seine beiden Hauptfiguren muss auch der Erzähler von einer wichtigen Episode seines Lebens Abschied nehmen; das Heraufbeschwören des Details und der konkreten Dialoge gewinnt so ein Moment von Trauerarbeit.

Um mit der Doppelbedeutung des ersten Wortes im Roman zu enden: Die Vergangenheit ist dahin, also vergangen, aber um sie wirklich hinter sich zu lassen, muss man sich noch einmal dahin, also zu ihr treiben lassen. Man muss die Vergangenheit memorieren und durcharbeiten, um aus ihr eine geschlossene Geschichte machen zu können. Wie emphatisch und zugleich wie genau man so eine emotionale Reise erzählen kann und wie viele Bereiche der Wirklichkeit man damit berühren kann, zeigt Michael Kleeberg wieder einmal mit seinem neuen Roman Das amerikanische Hospital.

Das amerikanische Hospital

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