Melanie Raabe: Die Wälder

Ab jetzt bist du auf dich allein gestellt.

Als Nina die Nachricht erhält, dass Tim, ihr bester Freund aus Kindertagen, unerwartet gestorben ist, bricht eine Welt für sie zusammen. Vor allem, als sie erfährt, dass er sie noch kurz vor seinem Tod fast manisch versucht hat, zu erreichen. Und sie ist nicht die Einzige, bei der er sich gemeldet hat. Tim hat ihr nicht nur eine geheimnisvolle letzte Nachricht hinterlassen, sondern auch einen Auftrag: Sie soll seine Schwester finden, die in den schier endlosen Wäldern verschwunden ist, die das Dorf, in dem sie alle aufgewachsen sind, umgeben. Doch will Nina das wirklich? In das Dorf und die Wälder zurückkehren, die sie nie wieder betreten wollte ...

»Was wie ein düsteres Märchen beginnt, wird schnell zu einem temporeichen Thriller. Intensiv!« emotion

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Die Wälder waren gefährlich...

Vollmond

Die alte Frau beeilte sich. Außer ihr war niemand mehr unterwegs, und auch sie wollte daheim sein, bevor die Straßenlaternen
verloschen. Bevor die Dunkelheit auf das Dorf herabfiel wie ein Vorhang aus Finsternis. Der Vollmond spendete kein Licht heute Nacht, er hielt sich hinter dichten Wolken verborgen. Auf Höhe der uralten Linde musste sie kurz innehalten, um zu verschnaufen.
Einen Moment nur. Sie war ja fast zu Hause. Schwer stützte sie sich auf ihren Stock, und während sie Atem schöpfte, schweifte ihr Blick unwillkürlich zu den letzten Häusern des Ortes, die sich ein Stück weit die Straße hinunter abzeichneten. Hinter ihnen
begannen die Wälder.

Die Wälder waren gefährlich. Sie erstreckten sich vom Rand des Dorfes unendlich weit und wurden immer finsterer, je tiefer man in sie vordrang. Die Wälder veränderten die Menschen, die es
wagten, sie zu durchqueren. Manche gingen alt und gebeugt
hinein und kamen jung und aufrecht wieder heraus, doch bei den meisten war es genau umgekehrt. Einigen verhalfen die Wälder zu Klarheit, anderen verwirrten sie den Sinn. In ihrem Zentrum waren sie so schwarz, dass jeder, der einmal in dieses Dunkel blickte, auf immer sein Augenlicht verlor. Mitten durch sie hindurch lief eine Schlucht, so tief, dass ein Stein, den man hineinwarf, ein Jahr lang fiel, bevor er auf den Grund traf. Die Wälder waren lebendig.
Bevölkert von Wesen, so alt wie die Erde selbst. Manchmal riefen sie nach den Menschen, griffen nach ihnen, wenn sie unvorsichtig genug waren, dem Waldrand zu nahe zu kommen. Und manchmal, ganz selten, kam des Nachts etwas heraus aus den Wäldern,
angezogen von den warmen Körpern und den Träumen der
Menschen, und ging um in den Straßen des Dorfes.
Die alte Frau kannte die Sagen.

Sie setzte sich wieder in Bewegung, bog in ihre Straße ein, hörte bereits das Plätschern des Baches, der das Dorf durchfloss.
Gerade war sie an die Brücke gekommen, die sie überqueren musste, um zu ihrem Häuschen zu gelangen, als das Licht um sie herum verlosch. Erschrocken sog sie die Luft ein. Nicht der
Dunkelheit wegen, die sie plötzlich umgab, sondern wegen dem, was sie einen Wimpernschlag lang wahrgenommen hatte, bevor die Straßenbeleuchtung abgeschaltet worden war, genau auf der Schnittstelle zwischen Licht und Finsternis. Am anderen Ende der Brücke stand etwas. Die alte Frau starrte in die Schwärze vor ihr. Horchte.
»Ist da wer?« Ihre Stimme klang fremd. Sie wartete, erhielt keine Antwort. Sagte sich, dass sie sich getäuscht haben musste. Dass sie nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben konnte. Gerade hatte sie sich wieder vorsichtig in Bewegung gesetzt – sie brauchte kein Licht, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, sie kannte
diesen Weg im Schlaf –, als der Mond hinter den Wolken
hervorkam und die kleine Brücke vor ihr in silbriges Licht tauchte. Und da war sie wieder. Die Erscheinung. Es war ein junges
Mädchen. Es stand am anderen Ende der Brücke und sah sie aus
starren Augen an.
Die alte Frau hielt sich am Geländer der Brücke fest. Sie war
neunundachtzig Jahre alt, aber völlig klar und bei Verstand, und auch ihre Augen waren noch immer gut. Sie bildete sich das nicht ein. Sie sah das Geistermädchen ganz genau. Das weiße Gewand im Mondlicht, ein Segel im Wind. Die durchscheinende Haut, das wehende Haar, schwarz wie die Nacht selbst. Und die dunklen
Augen, die Dinge erblickt hatten, die nicht von dieser Welt waren.

All das sah die alte Frau. Aber die dünne Blutspur, die der Geist hinterließ, als er sich umwandte und in Richtung der Wälder
verschwand, die sah sie nicht.

1

Die Finsternis brach urplötzlich herein. Von einer Sekunde auf die andere. Sie hielt drei Tage, fünfzehn Stunden und vierunddreißig Minuten lang an.

Nina war gerade auf dem Heimweg, die Schicht steckte ihr in den Knochen. Eigentlich hatte sie für Halloween freigenommen, doch der Kollege, der sie hätte ablösen sollen, war nicht rechtzeitig aus dem Urlaub zurückgekehrt, Pilotenstreik oder so was, also war sie geblieben. Fast achtundvierzig Stunden lang. Die halbe Nacht über hatte sie in der Notaufnahme mit der Pinzette Glassplitter aus Handflächen und Knien geholt, Mägen ausgepumpt, Platzwunden genäht, gebrochene Nasen versorgt. Ein kleiner Superman, der höchstens zwölf oder dreizehn sein konnte und aussah, als wäre er einer ordentlichen Menge Kryptonit ausgesetzt gewesen, der offiziell jedoch mit Alkoholvergiftung eingeliefert worden war, hatte sie aus halb geschlossenen Augen angeschaut und sie gefragt, ob sie ein Engel sei, bevor er sich auf ihren Kittel übergeben hatte. Mit Wehmut hatte Nina an das Prinzessin-Leia-Kostüm gedacht, das ungetragen in ihrem Zimmer hing. Ihre Mitbewohnerin hätte ihr die Haare geflochten, sie hatte sich eigens ein Tutorial auf YouTube dafür angeschaut, und sie wären auf die Party eines gemeinsamen Freundes gegangen.

Egal. Es war, wie es war. Niemand hatte sie gezwungen, Ärztin zu werden. Sie hatte dem Jungen die Haare aus der verschwitzten Stirn gestrichen und war sich umziehen gegangen. Viel Glück, Kleiner. Möge die Macht mit dir sein. Als der Kollege sie dann doch noch abgelöst hatte und Nina das Krankenhaus verließ, hätte sie eigentlich taumeln müssen vor Erschöpfung, doch sie war hellwach. Das Runterfahren dauerte immer lange bei ihr, die Müdigkeit würde auch heute auf sich warten lassen – und der Schlaf erst recht. Nina entschied, nicht direkt vor dem Krankenhaus in die U-Bahn zu steigen, sondern ein paar Straßen weiter die S-Bahn zu nehmen. Sie brauchte Auslauf. Trotz der feuchten Kälte, die in den letzten Tagen von der Stadt Besitz ergriffen hatte, waren die Straßen immer noch voll, und je näher Nina der Haltestelle kam, desto lauter und gedrängter wurde es. Sirenengeheul, Gelächter und Gebrüll. An der großen Kreuzung, auf die sie zusteuerte, sah es aus, als könnte jeden Moment der Straßenkampf losbrechen. Überall Betrunkene, viele von ihnen verkleidet. Skelette, Vampire, Zombiehorden. Die Stimmung war irgendwo zwischen ausgelassen und aggressiv, unmöglich zu sagen, in welche Richtung sich das gleich noch entwickeln würde hier, die Luft schmeckte nach Tequila und Beton. In der Ferne zuckte das Blaulicht eines Krankenwagens. Es knirschte unter Ninas Schuhen, in dieser Nacht waren schon so viele Bierflaschen zu Bruch gegangen, dass es kaum noch möglich war, nicht in Scherben zu treten. Streitende Pärchen, junge Männer in kleinen Grüppchen, vermutlich auf der Suche nach einem Club, der sie auch ohne Mädels im Schlepptau nicht abweisen würde.

Ein Taxifahrer hupte einen Mann an, der sich als Frankensteins Monster verkleidet hatte und ihm direkt vor den Wagen gelaufen war. Der Fahrer legte die Hand auf die Hupe und nahm sie einfach nicht wieder runter. Der Lärm war ohrenbetäubend. An einer Straßenecke schoss eine junge Frau mit ausrasierten Schläfen mit einer Schreckschusspistole in den Himmel, vertrieb die letzten Rotkehlchen auf sieben Jahre aus der Stadt. Zwei Dragqueens, von denen sich eine als gute und die andere als böse Fee verkleidet hatte, bewarfen Passanten mit Glitzer. Nina überquerte die Kreuzung, wich einer Gruppe Dementoren aus, die ihr entgegenkam, und stieß mit einem dunkelhaarigen Mann zusammen, der komplett in Schwarz gekleidet war, rote Kontaktlinsen und kunstvoll aufgeklebte Hörner trug, die tatsächlich aussahen, als wüchsen sie direkt aus seiner Stirn. Ein paar Meter weiter wurde Nina auf vier Mädchen aufmerksam, die sich als Ghostbustersverkleidet hatten. Kurz sah sie ihnen nach und fragte sich, wo man bloß diese absolut echt aussehenden Protonenpacks bekam, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatten, als ihr klar wurde, dass das Mobiltelefon in ihrer Hosentasche vibrierte.

Der Anruf brachte alles zurück. Das Dorf und die Wälder. Das röteste Rot und das schwärzeste Schwarz. Den kalten Zigarettenrauch. Die Friedhofsblumen. Dahlien und Astern. Milchzähne in Plastikbehältern und Schlüpfer auf der Leine. Herbststürme und Blindschleichen und Hagebuttensträucher und Kohleöfen. Die feuchte Erde und den Geschmack von Metall. Und die Wölfe. Vor allem die.

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Die Autorin über das Schreiben, ihre Inspirationsquellen und den Erfolg

Melanie Raabe
© Christian Faustus

Melanie Raabe: Der Shooting-Star der deutschen Krimi- und Thrillerliteratur

Melanie Raabe wurde 1981 in Jena geboren, wuchs in einem 400-Seelen-Dorf in Thüringen und einer Kleinstadt in NRW auf, studierte Medienwissenschaft und Literatur in Bochum und lebt inzwischen in Köln – als Journalistin, Drehbuchautorin, Bloggerin, Performerin und Theaterschauspielerin. Darüber hinaus betreibt sie ihren eigenen Interview-Blog www.biographilia.com und erhielt bereits mehrere Preise für ihr Schreiben. Ihr Roman Die Falle war international eines der heißumkämpftesten fremdsprachigen Bücher der letzten Jahre.