IST DONALD TRUMP DER BEDAUERNSWERTESTE MENSCH DER WELT?
Der bedauernswerteste Mensch der Welt erbte ein Vermögen und besuchte eine teure Elite-Uni. Danach heiratete er eine Reihe von Models – nacheinander natürlich – und verdiente Millionen als Star seiner eigenen Reality-TV-Sendung. Sein Name stand schon für Macht, Selbstvertrauen und Reichtum, als er sich seinen größten Traum erfüllte. Er kandidierte für die Präsidentschaft – und besiegte die klare Favoritin. Jetzt war er mächtiger und berühmter denn je. Als Präsident lebte er so, wie Kinder sich den Alltag eines Königs vorstellen mögen. Den halben Tag sah er fern. Er lud eine siegreiche American-Football-Mannschaft zu sich nach Hause und servierte ihr zwischen vergoldeten Kandelabern Berge von Burgern, Pommes und Pizza. Wenn ihm irgendetwas nicht passte, schrieb er im Bett oder auf dem Klo Twitter-Nachrichten, mit denen er die halbe Welt aufschreckte. Und wenn er auf seinem großen Schreibtisch einen Knopf drückte, brachte ihm ein Butler eine Diet Coke. Zwölfmal pro Tag. Trotzdem stellte Donald Trump sich, nur wenige Monate nach seiner Wahl, an ein Rednerpult und rief der Menge zu: »Kein Politiker in der Geschichte – und ich sage das mit großer Gewissheit – wurde schlimmer oder unfairer behandelt!«
Schlimm und unfair behandelt? Trump war nie gefoltert worden. Nie war er wegen seiner Überzeugungen ins Gefängnis gekommen, und nie hatte er sich verstecken müssen. Im Gegenteil schien er jederzeit zu sagen und zu tun, worauf er gerade Lust hatte. Warum also beklagte er sein Schicksal? Und warum teilten Dutzende Millionen Amerikaner seine Sicht? In ihm sahen sie einen Macher, der den Neid seiner Feinde auf sich zog. Sie glaubten Trump, wenn er ihnen sagte, eine Verschwörung hoher Staatsbediensteter wolle ihn zu Fall bringen. Sie schrien Reporter an, wenn er behauptete, TV-Sender brächen Live-Übertragungen seiner Reden ab, weil diese ihnen nicht gefielen. Sie wiederholten sein Wort von der »Hexenjagd «, durch die finstere Bürokraten ihn angeblich zu Fall bringen wollten. Sie empörten sich mit Trump, wenn dieser das Schicksal von Ex-Mitarbeitern beklagte: »Wer wird die jungen und wunderschönen Leben derer zurückgeben, die durch die verlogene Hexenjagd erschüttert und zerstört wurden?« Sie seien »mit Sternen in ihren Augen nach Washington, D.C.« gereist, um »unserer Nation zu helfen… Zurück kehrten sie in Fetzen!« Trumps Anhänger scherte es nicht, dass Gerichte diese Berater reihenweise wegen schwerer Delikte verurteilten. Im Gegenteil. Jede Kritik bestärkte sie in ihrer Überzeugung, böse Mächte wollten ihr Idol daran hindern, ihnen zu helfen. Sie glaubten Trump, wenn er seinen damals 56 Millionen Twitter-Followern schrieb: »Das Opfer hier ist der Präsident.«
Der mächtigste Mensch der Welt – ein Opfer?
»Wir alle verstehen uns als Zentrum unseres eigenen Universums«, sagt Chris Cillizza vom US-Nachrichtensender CNN. »Aber Trump treibt diese Sicht ins absolute Extrem. Er glaubt, das Universum sei hinter ihm her, und deshalb verdiene er von allen Mitleid und Sympathie.« Dabei ist Trumps aggressives Selbstmitleid nicht einmal das Bemerkenswerteste. Noch erstaunlicher ist, wie es ihm gelang, Millionen Amerikaner von seinem Opferstatus zu überzeugen. Indem er sich als von finsteren Mächten Verfolgter präsentierte, den allein die Unterstützung loyaler Anhänger vor dem Fall bewahre, schmälerte er seine Macht nicht. Er festigte sie. Der 45. US-Präsident bietet das spektakulärste Beispiel einer Entwicklung, die vor seinem Amtsantritt begonnen hat und unsere Welt lange nach seinem Abgang prägen wird: den Aufstieg des Opfers vom Außenseiter zum Helden.
In Deutschland beschwören AfD-Politiker eine »Selbstzerstörung unseres Staates und Volkes« und plakatieren den Slogan Wir sind nicht das Weltsozialamt! Angeblich betrieben Politik und Medien die »Überfremdung« Deutschlands. Das Ziel des verräterischen Regimes sei der »Volkstod«. Dass niemand außer ihnen die Verschwörung erkennt, beweist aus ihrer Sicht gerade deren Ausmaß – und ihre Erwähltheit. Ihr Bauchgefühl gilt ihnen als unanfechtbare Wahrheit.
Ähnliches sehen wir in Ungarn, wo Premier Viktor Orbán die Gefahr durch die EU beschwört: Die »virtuelle Welt der privilegierten europäischen Elite« plane einen »Bevölkerungsaustausch« durch »Massen einer anderen Kultur aus einer anderen Zivilisation«. In der Türkei behauptet Präsident Recep Tayyip Erdoğan, verantwortlich für die tiefe Wirtschaftskrise seines Landes sei eine westliche Verschwörung, um die Türkei »in die Ecke zu drängen«. In Brasilien erklärt Präsident Jair Bolsonaro, das Land müsse sich »vom Sozialismus, der Umkehrung der Werte und der politischen Korrektheit befreien«, und sein Außenminister sieht sogar im Klimawandel eine »marxistische Verschwörung«. Die vermeintlichen Opfer halten ihre Gegner für so allmächtig wie unfähig.
Die neue Lust am Opfer-Sein floriert auch unter Linken. An Universitäten fordern Studierende umfassenden Schutz vor unliebsamen Meinungen ein. Sie fürchten, selbst Worte in einem Buch könnten sie traumatisieren. Literaturklassiker erhalten deshalb »Triggerwarnungen«. Die sollen junge Leser davor bewahren, sich schockartig an schmerzvolle Erlebnisse erinnert zu fühlen. Selbst dann, wenn es gar nicht ihre Erlebnisse sind, sondern die anderer Frauen, Schwuler oder African Americans. So sei es schwarzen Studenten nicht zuzumuten, rassistische Schimpfworte in einem Artikel zu lesen – selbst wenn der Text Rassismus kritisch behandelt. Genauso müssten weibliche Jura-Studierende Vorlesungen meiden dürfen, welche die Rechtsprechung in Vergewaltigungsfällen behandeln. Die neuen Opfer erklären anderer Leute Leid zu ihrem eigenen und leiten daraus ein Recht auf Schutz ab. Ihr subjektives Empfinden genügt. Jeder Einwand, jede Verteidigung bestätigt ihnen nur die Verblendung der anderen. Die neuen Opfer halten sich für ohnmächtig, aber moralisch überlegen. [...]