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SPECIAL zu Martin Horváth »Mohr im Hemd«

Von Weltverbesserern und anderen Narren

Ein Gespräch mit Martin Horváth

Herr Horváth, Sie haben Musik studiert, arbeiten als Kammermusiker, aber ihr erster Roman Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten führt in eine ganz andere Welt – in ein Wiener Asylantenheim, in dem der Jugendliche Ali Idaulambo aus einem nicht näher benannten westafrikanischen Land auf die Bewilligung seines Antrags wartet. Wie kam es zu der Wahl dieses Themas?

Persönlich beschäftigt mich das Thema des Fremdseins schon seit Langem: als Schriftsteller, als Musiker auf Reisen, aber auch als Österreicher, der fünf Jahre in New York verbrachte. Einerseits machte ich dort die Erfahrung, selbst ein Fremder zu sein, andererseits lernte ich im Zuge eines Forschungsprojektes zahlreiche jüdische Österreicher kennen, die während der Nazizeit aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben wurden und in den USA Zuflucht fanden.
In Österreich ist das sogenannte "Ausländerproblem" schon seit Ende der Achtzigerjahre eines der beherrschenden politischen Themen: "Die Ausländer" wurden über viele Jahre hinweg zum Sündenbock für alles Schlechte gemacht. In kleinen Schritten gewöhnte man sich so an die zunehmende – und zunehmend staatlich sanktionierte – Diskriminierung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Als politisch und historisch denkender Mensch schmerzt mich diese Entwicklung, und es ärgert mich, dass Einwanderung nur als Problem, nicht aber als Chance gesehen wird.
Ursprünglich wollte ich einen Roman über das Schicksal einiger Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und deren Erfahrungen in Österreich schreiben. Im Zuge der Recherchen und der Materialsammlung erweiterte sich der Blickwinkel bald auf die Schicksale von Flüchtlingen im Allgemeinen. Dann stieß ich auf die Gruppe der jugendlichen Asylwerber, die noch mehr als die erwachsenen zwischen allen Stühlen sitzen, und sie rückten schließlich ins Zentrum des Romans.
In Ihrem Roman geben Sie Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern eine glaubwürdige Stimme. Gibt es reale Vorbilder für die so detailreich gezeichneten Figuren und ihre Schicksale? Wie haben Sie für den Roman recherchiert?

Trotz der manchmal ins Surreale gleitenden Erzählung entsprechen sowohl die länderspezifischen Fluchtgeschichten als auch viele Details aus dem Alltag in einem Flüchtlingsheim dem, was man gemeinhin unter "Realität" versteht. Direkte reale Vorbilder gibt es aber weder für Ali und seine Mitbewohner noch für deren Betreuer.
Am Beginn der Recherche standen zahlreiche Bücher und Zeitschriften zu den verschiedenen Herkunftsländern der Flüchtlinge, zu deren Fluchtgeschichten sowie deren Alltag in Österreich; dazu gehörten u. a. auch Gesetzestexte, Bescheidanalysen oder Fachliteratur zur psychoanalytischen Arbeit mit traumatisierten Menschen. Es folgten Gespräche mit verschiedenen Flüchtlingsbetreuern; am Wiener Integrationshaus absolvierte ich schließlich eine sogenannte Flüchtlingsbuddy-Ausbildung. Ziel dieses Kurses ist es, auch ehrenamtlichen Helfern Basiswissen und Grundkompetenzen zum Thema Flüchtlingsarbeit zu vermitteln. Auf diese Weise bekam ich Einblick in den Alltag der Flüchtlinge und konnte gleichzeitig ein wenig Unterstützung anbieten.

Zwar schildern Sie die Lebensgeschichten der Figuren sehr anschaulich mit realistischen Mitteln, die Anlage des Romans jedoch spielt mit der Wirklichkeit. Die Hauptfigur Ali Idaulambo ist ein unglaubwürdiger, da allwissender Erzähler. Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten ist ein wahrer Schelmenroman. Warum haben Sie diese Form gewählt?

Ursprünglich war der Roman wesentlich ernster angelegt, doch eines Tages trat Ali auf den Plan und nahm mir sozusagen das Heft aus der Hand. Ali ist ein Schelm, Ali ist Simplicius Simplicissimus, Ali ist der Hofnarr. Hofnarren hatten ja nicht nur die Pflicht, zu unterhalten, sondern wurden oft genug beauftragt, dem Herrscher besonders unangenehme Wahrheiten humoristisch verbrämt mitzuteilen. Der Humor des Hofnarren ist subversiv, er darf den anderen den Spiegel vorhalten, darf ungestraft alles sagen, solange er Sinn in möglichst kunstfertigen Un-Sinn verpackt. Seine Kunst lebt von der ständigen Grenzüberschreitung und vom unmittelbaren Nebeneinander von Tragödie und Komödie.
Das Spiel mit der Wirklichkeit funktioniert in Mohr im Hemd auf mehreren Ebenen.
Der Narr lebt in zwei Welten: in seiner eigenen, "närrischen" Realität und in der Welt der "normalen" Menschen. Auch Ali und seine Mitbewohner müssen lernen, zwei verschiedene Welten miteinander in Einklang zu bringen: Sie kommen aus exotischen Ländern, aus – für uns – fremden Welten, umgekehrt ist für sie die Realität in Österreich eine andere, fremde, in der sie sich erst zurechtfinden müssen.
Leider treffen auch auf anderer Ebene verschiedene Realitäten aufeinander: Viele Asylwerber sind durch Verfolgung, Vertreibung und Flucht traumatisiert, bei manchen führen diese Traumatisierungen zu schweren Persönlichkeitsstörungen. Alis Mitbewohner Yaya hat beispielsweise Flashbacks, bei denen er verstörende Situationen aus der Vergangenheit wieder und wieder durchlebt; der schlaflose Gjergi zieht sich immer öfter in seine Tagträume zurück; und Ali selbst gleitet schließlich mehr und mehr in eine surreale, "närrische" Realität ab.
Bei Alis "Allwissenheit" spiele ich – trotz Ich-Erzählung – mit den Traditionen des auktorialen Erzählens; seine "Unglaubwürdigkeit" wiederum verdankt sich dem oft gehörten Vorwurf der Lüge: In Wahrheit wären die Asylwerber ja nicht aus politischen oder religiösen Gründen auf der Flucht, sondern bloß auf der Suche nach einem besseren, bequemeren Leben ...

Haben Sie literarische Vorbilder, die für die Arbeit an Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten Inspirationsquelle waren?

An erster Stelle sind da natürlich einige lateinamerikanische Autoren zu nennen. Das selbstverständliche Nebeneinander von Realität und Mythos (oder: von verschiedenen Realitäten) in vielen Werken von Alejo Carpentier, Gabriel García-Márquez oder Julio Cortázar war definitiv eine wichtige Quelle der Inspiration, Guillermo Cabrera-Infantes Roman Drei traurige Tiger mit seiner unglaublichen Fülle an Wortschöpfungen und Sprachspielereien eine weitere. Sprachliche Vorbilder sind, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art, auch Vladimir Nabokov, Arno Schmidt und Thomas Bernhard.

Immer wieder erschallt der Ruf der Kritiker nach mehr Welthaltigkeit in der deutschsprachigen Literatur, nach mehr Gegenwartsbezug. Ihr Roman erfüllt diese Forderung – was wollen Sie mit diesem Roman bewegen, der so direkt eines der konfliktreichsten Themen unserer Zeit, das der Einwanderung, literarisch verarbeitet?

Natürlich würde ich mit meinem Roman gerne die Welt verbessern, und es wäre schön, würden alle Fremdenhasser dieser Welt durch die Pflichtlektüre von Mohr im Hemd auf immer von ihrer Xenophobie geheilt. Nachdem das wohl eher nicht der Fall sein wird, stecke ich mir ein etwas bescheideneres Ziel: den Lesern die prekäre Lebenswelt von Flüchtlingen näherzubringen und zu einem entspannteren und konstruktiveren Dialog zu den Themen Asyl und Zuwanderung beizutragen.

Das Interview führte Marion Kohler.
© Verlagsgruppe Randomhouse 2012

Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten

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