Prolog
März 2006
»Du darfst die Augen jetzt aufmachen«, hörte sie Tom sagen.
Amandas Herz pochte wie wild, und es überkam sie eine Aufregung, wie sie sie bisher nur dreimal im Leben verspürt hatte. Als der Mann ihrer Träume zwei Jahre zuvor mitten auf dem Collegecampus auf die Knie gegangen war und ihr einen Antrag gemacht hatte. Als er sie im Sommer darauf zur Frau genommen hatte. Und als ihr gemeinsames Töchterchen vor neun Monaten zur Welt gekommen war. Jedes Mal hatte sie gewusst, dass es lebensverändernde Momente waren, und genau das verspürte sie auch jetzt, als sie die Augen endlich wieder öffnete.
Als Erstes sah sie Tom, der die kleine Jane auf dem Arm hielt und der sie hierhergeführt hatte, wo immer sie sich auch befanden. Irgendwann hinter Carmel-by-the-Sea hatte er ihr gesagt, dass sie die Augen schließen sollte. Ihr Blick wanderte weiter, an ihrem Mann und ihrem Baby vorbei, zu den Weiten der Felder, die vor ihnen lagen.
»Was ist das?«, fragte sie Tom, der sie strahlend ansah. Sie glaubte sogar, ihn noch nie so breit lächeln gesehen zu haben.
»Das ist unsere Zukunft«, antwortete er.
Stirnrunzelnd sagte sie: »Das musst du mir genauer erklären.«
Tom schmunzelte und gab Jane einen Nasenstupser, bevor er sie sachte in die Luft warf und wieder auffing, woraufhin die Kleine anfing zu lachen. Er wiederholte das Ganze, und Jane hatte ihren Spaß. Amanda aber wurde langsam ungeduldig.
»Tom?«
Er hörte mit dem Fangspiel auf, setzte Jane auf seine Schultern und drehte sich in Richtung des Feldes, das vollkommen leer war und Amanda vor ein Rätsel stellte.
»Du kennst meine Lieblingsfrüchte?«, fragte Tom sie überflüssigerweise.
Sie musste lachen. »Jeder, der dich kennt, weiß, was deine Lieblingsfrüchte sind.« Das war auch nicht schwer zu entschlüsseln, da es in wirklich allem seine Lieblingssorte war. Kuchen, Eiscreme, Marmelade – da gab es für Tom nur eine Option: Erdbeeren! »Und was hast du nun vor? Kann man hier irgendwo Erdbeeren pflücken?«, erkundigte sie sich, während sie gleichzeitig grübelte, ob es überhaupt möglich war, hier Anfang März schon reife Früchte zu finden. Im Treibhaus vielleicht, aber auch davon sah sie weit und breit keins.
»Amy, streng doch mal dein süßes kleines Gehirn an«, neckte er sie nun.
»Hey!«, schimpfte sie und stieß mit ihrer Schulter gegen seine, woraufhin Jane wieder ausgelassen lachte. »Ich hab ein ziemlich großes Gehirn«, erinnerte sie ihn für den Fall, dass er es vergessen haben sollte. »Oder weißt du etwa nicht mehr, dass ich als eine der fünf Jahrgangsbesten das College abgeschlossen habe?«
»Ach, stimmt. Ja, das war mir kurz entfallen.« Er grinste sie an. »Okay, wenn du also so schlau bist, solltest du noch mal scharf nachdenken. Wir stehen hier vor einem riesigen Feld, das ich uns gekauft habe. Was könnte ich also vorhaben, hier anzubauen?«
Ihr fiel die Kinnlade herunter. »Du hast was? Dieses Grundstück für uns gekauft? Bist du denn verrückt geworden? Wie sollen wir uns das nur leisten, ich meine …«
»Schhhh!«, machte Tom, beugte sich gemeinsam mit Jane zu ihr herunter und schloss ihre Lippen mit seinen.
»Aber Tom …«, sagte sie, obwohl dieser Kuss ihr ein wohliges Kribbeln hinterlassen hatte. »Das ist eine Sache, die wir hätten besprechen müssen. Du kannst doch nicht einfach so ein Erdbeerfeld kaufen!«
»Noch ist es kein Erdbeerfeld. Hier wurden bisher Zwiebeln angebaut. Aber bereits nächstes Jahr um diese Zeit könnten wir unsere ersten Früchte wachsen sehen.«
»Na, dann hoffe ich, dass deine Erdbeeren nicht nach Zwiebeln schmecken.« Sie zog eine Grimasse.
Tom lachte, und Jane lachte mit. Die Kleine sah zu süß aus mit den zwei Zöpfchen, die Amanda ihr mit Schmetterlingshaargummis gebunden hatte. Ihre braunen Äuglein glitzerten in der Frühlingssonne.
»Nun nimm die Sache bitte mal ernst, Amy«, sagte Tom, noch immer lächelnd, doch sie konnte in seiner Stimme hören, dass dies wohl doch keine unüberlegte, spontan entschiedene, verrückte Sache war. Tom schien diesen Plan schon vor längerer Zeit ausgeheckt zu haben.
»Du willst also wirklich unter die Erdbeerfarmer gehen?«, fragte sie ihn.
»Ja, genau. Ich dachte mir, das wäre etwas Schönes, was man sich aufbauen könnte. Wir könnten uns hier ein Haus hinstellen und sobald wie möglich herziehen. Oder willst du etwa ewig bei deinen Eltern wohnen bleiben?« Die Einliegerwohnung war eigentlich nur als Zwischenlösung gedacht gewesen, doch jetzt lebten sie bereits seit gut einem Dreivierteljahr dort. Direkt nach dem Studium in Stanford waren sie dort eingezogen. Gleich nachdem Amanda sich das Ab-schlusszertifikat mit dem kugelrunden Bauch von der Bühne abgeholt hatte.
»Ich fände es toll, endlich etwas Eigenes zu haben«, sagte sie ihrem Mann. »Ein Heim, in dem Jane aufwachsen kann. Und wie schön es wäre, wenn sie das auf dem Land tun könnte. Hier hätte sie die Möglichkeit, sich ganz frei zu entfalten.«
Tom schien sich zu freuen, dass ihr seine Idee zu gefallen begann. »So hatte ich mir das gedacht. Ich baue Erdbeeren an, und du kümmerst dich um den Verkauf und die Buchhaltung.« Sie hatte am College mehrere Wirtschaftskurse belegt, das würde sie sicherlich hinbekommen. »Du könntest auch Marmelade kochen, und wir könnten einen von diesen kleinen Holzständen aufstellen und unsere Erdbeeren direkt an vorbeifahrende Kunden verkaufen. Jane müsste nicht in den Kindergarten gehen, weil wir immer ein Auge auf sie hätten. Wie hört sich das für dich an?«, fragte Tom und sah dabei so hoffnungsvoll aus, dass sie sich, wenigstens in diesem Moment, überhaupt keine Gedanken mehr darüber machen wollte, wie um alles in der Welt sie eine Erdbeerfarm finanzieren oder sich ein Eigenheim bauen sollten. Stattdessen wollte sie einfach nur mit Tom zusammen träumen.
»Das hört sich perfekt an«, erwiderte sie und schenkte ihrem wunderbaren Mann ein Lächeln. Dann nahm sie ihm Jane ab und deutete mit dem Finger zum Horizont, bis wohin sich das Feld zu ziehen schien. »Guck mal, Jane, das alles wird allein uns gehören. Unser neues Zuhause. Wie findest du das?«
Jane freute sich und klatschte in die Hände, was sie erst vor Kurzem gelernt hatte und nun jederzeit mit Begeisterung tat.
»Ich glaube, es gefällt ihr hier«, sagte Tom.
»Das glaube ich auch.«
»Und gefällt es dir ebenso?«, wollte er wissen.
Sie setzte sich Jane auf die Hüfte, damit sie eine Hand frei hatte, mit der sie nun seine Taille umfasste. Sie schmiegte sich an ihn. »Ich liebe es, Tom. Ich glaube, wir werden hier sehr glücklich werden.«
Tom nickte zustimmend und sah aufs weite Feld hinaus. Und Amanda schloss erneut die Augen, lächelte selig und atmete den Duft der zukünftigen Erdbeeren ein, den sie sich einbildete, schon jetzt riechen zu können.
Kapitel 1
Amanda
Sie wanderte über ihre Farm und sah den Erntehelfern beim Pflücken zu. Es war Ende April, die Saison hatte vor wenigen Wochen begonnen, doch nichts war, wie es mal gewesen war. Die letzten zwei Jahre hatten ihnen schwer zugesetzt. Zuerst Toms Krankheit und danach das weltweite Virus, das auch Kalifornien nicht verschont hatte … all das hatte sie ziemlich weit zurückgeworfen. Im vergangenen Herbst hatte Amanda aus Kostengründen nicht einmal die Erdbeerpflanzen herausreißen können, um für die nächste Saison neue zu pflanzen, wie sie es die letzten dreizehn Jahre stets getan hatten. Denn nur so konnte man sichergehen, dass die folgende Ernte große und pralle Früchte hervorbringen würde. Leider musste Amanda sich in diesem Jahr nun mit sehr viel kleineren und auch nicht so schön geformten Erdbeeren zufriedengeben, was natürlich finanzielle Einbußen mit sich brachte. Glücklicherweise betrieb sie eine Bio-Farm, und die meisten Kunden betrachteten es als völlig akzeptabel, wenn ein paar der Beeren nicht ganz so perfekt aussahen, doch eben nicht alle. Und deshalb musste sie in diesem Frühjahr die Preise anpassen und konnte für eine Palette mit acht Ein-Pfund-Schalen nicht mehr vierzehn, sondern nur noch zwölf Dollar verlangen. Das war nur verständlich, da die Erdbeeren an Supermärkte in ganz Kalifornien und sogar nach Oregon und Washington gingen – und wer wollte schon mickrige Erdbeeren haben?
Anders war es am Stand. Kunden aus der Umgebung, die persönlich vorbeikamen oder auch Reisende, die ihren kleinen Tisch am Straßenrand entdeckten, zahlten die gewohnten vier Dollar pro Schale. Das würde sich natürlich bald ändern, und zwar zur Hauptsaison im Juni und Juli, wenn alle Farmer ihre Erdbeeren zu Spottpreisen herauswarfen. Dann könnte sie gerade mal die Hälfte dafür nehmen, doch daran wollte sie noch überhaupt nicht denken. Die Sorgen um die Existenz der Farm raubten ihr schon nachts den Schlaf, wenigstens tagsüber wollte sie versuchen, positiv zu bleiben. Vielleicht würde sich ja eine Lösung finden, irgendeine.
Sie ging den Weg zwischen zwei Feldern entlang, auf dem ihre Erntehelfer in dem alten Pick-up-Truck zu den hinteren Bereichen fahren konnten. Mit diesem Wagen mit der großen Ladefläche wurden auch die vollen Erdbeerkisten zur Sortierstation gebracht. Erdbeeren – die Pflanzen, die mit botanischem Namen Fragaria hießen und die eigentlich zu den Rosengewächsen gehörten, waren zu Amandas Lebensinhalt geworden. Sie ging in die Hocke, pflückte sich eine reife rote Beere und biss davon ab. Mhmmm – sie waren immer wieder köstlich.