Poppy auf Mitternachtsbesuch

Sie standen auf dem Deck einer Fähre und fuhren zu einer kleinen Insel hinüber. Rechts und links von Pia klammerten sich die anderen Sandmöven* wie sie an der Reling fest.
Das Meer war aufgewühlt und warf die Fähre gefährlich hin und her. Bei der nächsten Welle konnte Pia sich nicht mehr halten und flog nach hinten.
„Aua!“, stöhnte sie, als sie auf dem Boden aufkam. Schmerzvoll rieb sie sich den Po und kniff die Augen zusammen. „Argh!“
Da vernahm sie ein Kichern hinter sich.
„Wow, das funktioniert ja echt cool!“
Pia öffnete die Augen. Sie brauchte einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Durch das Fenster fiel blasses Mondlicht ins Zimmer und sie begriff: Es gab hier weder ein Schiffsdeck noch ihre geliebten Sandmöven. Verwirrt schaute sie auf und bemerkte das schwankende Bett mit der Strickleiter über sich. War sie herausgefallen? Sie richtete sich zum Sitzen auf und blickte sich um. Ein paar Meter vor ihr trat plötzlich ein Mädchen aus der Dunkelheit.
„Hi, seid ihr die neuen Bewohner hier?“, fragte sie neugierig.
Pia starrte sie erschrocken an. Wo kam die denn plötzlich her? War das ein Traum?
Sie schob sich auf dem Boden zurück, um Abstand zu gewinnen.

„Äh, was ... Ey ... Was tust du hier?“
„Dich besuchen, was sonst?“, antwortete das Mädchen, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt – mitten in der Nacht. Sie hielt die Fernbedienung vom Zimmer hoch. „Hast du schon alles ausprobiert?“
Pia begriff mit einem Mal und kam wütend vom Boden auf. „Hast du das etwa ... Hast du etwa das Bett so zum Schaukeln gebracht, dass ich rausfalle?“
Ihr Gegenüber grinste. Nicht etwa peinlich berührt, sondern frei heraus und fast ein bisschen spöttisch.
„Klar. Du wärst ja sonst nie aufgewacht, so tief, wie du geschlafen hast!“
„Das ist nicht witzig! Wie kommst du hier überhaupt rein?“, protestierte Pia, die mittlerweile hellwach war.
Das Mädchen streckte ihr die Hand entgegen: „Hi, ich bin Poppy. Poppy Williams. Ich wohn in dem bunten Blumenhaus die Straße runter.“
Pia dachte gar nicht daran, ihre Hand zu schütteln. Nicht zuletzt, weil diese Poppy ihre Frage nicht beantwortet hatte. Kurz überlegte sie, ob sie laut losschreien sollte und ihre Eltern rufen. Aber irgendwie fühlte es sich dafür zu spät an. Zudem sah das Mädchen auch nicht gerade furchteinflößend aus. Eher ein bisschen verrückt. Über ihren Ohren saßen jeweils Haarkringel, die an Wollknäuel erinnerten. Um ihren Hals baumelte ein Lederband, an dem ein Holzmedaillon mit einer Feder hing. Und ihr buntes T-Shirt reichte bis über die Knie der zerrissenen Jeans. An den Füßen trug sie anstatt Schuhen jede Menge Schmutz und Straßenstaub.
Sie blinzelte Pia an. „Hast du auch einen Namen?“
„Pia. Blau.“
„Pia Blau, okay ...“, wiederholte Poppy Williams und schmunzelte. Tatsächlich klang der Name, wenn sie ihn sagte, als habe sie eine heiße Kartoffel im Mund. Pia kannte das schon von anderen amerikanischen Freunden ihrer Mutter.
„Woher kommst du?“, fragte das Mädchen weiter.
„Aus Deutschland.“
Poppy Williams nickte. „Haben sie dir gesagt, wo der Professor ist?“
„Welcher Professor?“, fragte Pia und rieb sich die müden Augen.
„Professor Grey!“
„Ach so. Ja, sie haben gesagt, dass er sich irgendwo ausruht.“
„Ausruht?!“, wiederholte Poppy aufgebracht. „Tzz. Und das glaubst du?“
„Was denn sonst?“, entgegnete Pia überfordert. Sie war eigentlich immer noch mit der Frage beschäftigt, was dieses Mädchen hier mitten in der Nacht in ihrem Zimmer zu suchen hatte. „Die haben gesagt, dass er das schon häufiger gemacht hat ... wenn ihm die Arbeit zu viel wurde.“
„Ja, aber diesmal ist das nicht der Fall.“
„Wie meinst du das?“, fragte Pia.
„Na, der ist doch nicht so bescheuert und lässt hier einfach sein Haus freiwillig zurück“, sagte Poppy und wies durch den Raum.
„Ich dachte, das Haus gehört Mister Booker?!“, wandte Pia zunehmend verunsichert ein.
„Ja, tut es auch“, bekam sie zur Antwort. „Aber Professor Grey hat es sich ausgedacht. Das gibt’s nur ein Mal auf der Welt. Das sind alles seine Lieblingsideen. Guck?!“ Poppy nahm die Fernbedienung vor den Mund und sprach hinein: „Dolly, zeig mal, was im Puppenhaus los ist!“
Keine Sekunde später ging das Licht in dem Miniaturhaus an und die Puppen darin begannen sich zu bewegen. Ein Mann stand in der Küche und rührte in einem Topf. Ein Kind spielte auf dem Boden mit seinen Bauklötzen. Es war unglaublich.
„Wow“, hauchte Pia. „Wie geht das denn?“
„Na, wie alles hier im Haus. Wobei ...“, Poppy grinste verschmitzt, „das mit dem Puppenhaus war meine Idee.“
„Dann kennst du den Professor?”
„Klar. Er ist quasi mein Freund und ich darf ihn besuchen, sooft ich will. Deswegen weiß ich auch, dass er das hier niemals einfach so zurücklassen würde.”
Poppy betätigte den Knopf auf der Fernbedienung, und das Licht im Häuschen ging wieder aus.
„Und was denkst du, warum der Professor weg ist?“, fragte Pia verblüfft.
Poppy Williams musterte sie forschend. Es wirkte, als wolle sie herausfinden, ob sie Pia trauen konnte. Im nächsten Moment zuckte sie jedoch mit den Schultern und sagte: „Weiß ich auch nicht.“
Das war’s.
Pia konnte der Antwort nicht entnehmen, ob Poppy es wirklich nicht wusste. Oder ob sie es ihr nicht sagen wollte.
„Okay“, antwortete sie deshalb und zuckte mit den Achseln.
Da schoss jedoch Poppys Zeigefinger vor und pikste in Pias Brust. „Gar nicht okay!“, widersprach sie. „Erst, wenn der Professor wieder da ist, dann ist alles okay.“
Pia schluckte erschrocken. „Okay ...“, murmelte sie.
Poppy Williams durchbohrte sie mit ihren dunklen Augen. Pia schätzte, dass sie nur ein paar Monate älter sein konnte. Auf jeden Fall war sie unwesentlich größer als Pia. „Bist du mutig?“, fragte Poppy.
„Ähm ... klar. Wieso?“ Pia wich einen Schritt zurück. Es war geflunkert, aber sie wollte stark wirken und nicht noch mal ausgelacht werden.
Ein Fehler, wie sich herausstellte. Denn in Poppys Gesicht machte sich sogleich ein Strahlen breit und sie boxte Pia gegen den Arm. „Prima! Dann sind wir hiermit ein Team, Pia Blau.“
„Ein Team? Wozu denn?“
„Na, um so schnell wie möglich den Professor zu finden!“
Ehe Pia etwas erwidern konnte, zog Poppy einen Zettel aus der Hosentasche und hielt ihn ihr aufgefaltet vor die Nase.
„Da steht der Tag drauf, an dem Professor Grey verschwunden ist. Achtundzwanzigster Mai. Vielleicht auch am Tag davor. Das weiß ich leider nicht. Am Sonntag hab ich ihn auf jeden Fall noch gesehen.“
„Warum sucht die Polizei nicht nach ihm?“
„Weil die denken, dass er freiwillig weg ist!“
Poppy Williams Schokoladenaugen schauten sie herausfordernd an. Sie erwartete eine Antwort.
„Hör mal. Das ...“ Pia schob den hingehaltenen Zettel weg. „Ich will damit lieber nichts zu tun haben. Ich glaube das sollten wir wirklich den Erwachsenen überlassen ...“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Du glaubst doch nicht wirklich, dass Erwachsene Verschwundene besser finden als wir?“
„Ähm. Doch ... Schon ... Das ...“, stotterte Pia. Wie konnte jemand eine solche Selbstverständlichkeit in Frage stellen? Und dann auch noch ein Kind. Natürlich wussten Erwachsene alles besser! Immerhin waren sie doch viel älter und hatten zehn Millionen mehr Erfahrungen.
Poppy schien ihre Verwirrung zu bemerken.
„Weißt du was, Pia Blau?“, sagte sie. „Wir machen’s einfach so: Ich geb dir zwölf Stunden Bedenkzeit. Danach ist deine Chance verstrichen.“ Mit Blick auf ihre Uhr folgerte sie: „Morgen Mittag, zwölf Uhr. Bis dahin kannst du dich entscheiden, ob du Teil meines Teams werden willst und für eine bessere Welt eintreten - oder eben nicht. Howgh.“ Es klang wie Hau, und sie hob grüßend ihre Hand dazu.
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich ab, sprang leichtfüßig auf den Schreibtisch und von dort weiter aus dem Fenster in die Nacht hinaus.
Genauso lautlos und plötzlich wie Poppy Williams erschienen war, war sie verschwunden.
Howgh. Pia kannte den Gruß der amerikanischen Ureinwohner aus Western-Filmen. Er bedeutete: Ich habe gesprochen. Punkt.

Sie schluckte fassungslos und tastete nach ihrem Hintern. Die Stelle, auf die sie gefallen war, tat nach wie vor weh. Es war also tatsächlich passiert.
In ihrem ganzen Leben war sie nicht solch einem Mädchen begegnet! Unsicher schaute sie sich im Zimmer um. Dort hing das Schiff. In der Ecke stand das Puppenhaus. Daneben ihr Koffer. Da der Schreibtisch mit Lampe.
Pias Blick schweifte weiter. Etwas fehlte.
Poppy Williams hatte die Fernbedienung mitgenommen!
„Na, toll”, schnaufte Pia. Das hatte sie sich ja super ausgedacht. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als am nächsten Tag die Straße runter zu dem abgeblätterten Blumenhaus zu gehen und zu klingeln. Am besten vor zwölf. Dann konnte sie dieser Poppy Williams nämlich gleich mitteilen, dass sie natürlich auf gar keinen Fall Teil ihres Teams werden würde.
„Die spinnt doch!“, flüsterte Pia in die Dunkelheit und kletterte aufgebracht in das Schiffsbett zurück. Das kann sie ja so was von vergessen. Aber total!
Oben angekommen, zog sie sich die Decke bis zum Kinn. Wie gerne hätte sie sich jetzt mit den Sandmöven ausgetauscht. Was würden die wohl zu dieser Poppy Williams sagen?

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