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Linda Holeman zur Entstehungsgeschichte "Die Tochter des Seefahrers"

Die Autorin zum Buch

Linda Holeman
© Elcheshen's Photography Studio
Autoren sollen über das schreiben, was sie kennen, heißt es gelegentlich, aber auf mich trifft das nicht zu. Mich fasziniert das Unbekannte. Ich möchte mir historische Begebenheiten erschließen und möglichst viel über Dinge herausfinden, die mir fremd sind. Je länger ich dann über ferne Orte und Zeiten schreibe und mir das Leben dort ausmale, desto tiefer zieht es mich in diese Welten hinein. Statt nur um mich selbst und mein eigenes beschränktes »Wissen« zu kreisen, verstehe ich das Schreiben als Entdeckungsreise. Aus dem Sammelsurium an Material dann eine Geschichte zu konstruieren ist eine zutiefst erfüllende Aufgabe für mich.
Ideen – nicht Geschichten – fliegen mir unentwegt zu. Ich verdanke sie meiner Neugierde auf das Leben, zufälligen Entdeckungen in Büchern, der Betrachtung alter Fotos oder Erinnerungen an meine eigene Familiengeschichte.
Eine unbekannte Figur, die sich in meinem Kopf einnistet, oder eine historische Epoche können für mich ebenso inspirierend sein wie ein Land mit seinem pulsierenden Leben und den Einflüsterungen seiner alten Geister. Die Frage, aus welchen Fäden sich ein ganzer Roman spinnen ließe, ist dabei stets eine treibende Kraft.
Für Die Tochter des Seefahrers war Portugal meine Inspirationsquelle. Als mein letzter Roman Das Lied der Hoffnung druckbereit vorlag, krempelte ich die Ärmel hoch und nahm in Angriff, was ich für meinen nächsten Roman hielt. Die Geschichte erwies sich allerdings als so widerspenstig, dass ich sie verwerfen musste. In dieser frustrierenden Zeit ereigneten sich kleine Dinge, die ich im Nachhinein als glückliche Fügung betrachte. Eine meiner Töchter reiste nach Portugal und schickte mir aus Lissabon eine Postkarte, auf der wunderschöne blaue Kacheln abgebildet waren. Die Karte stand lange auf einem Schreibtisch, und ich schaute sie oft an. Irgendwie strahlte sie eine wunderbare Ruhe aus.
Dann schenkte mir ein Freund eine Flasche Ruby Port aus Porto an der Mündung des Douro. Ich mochte den Portwein und las aus purer Neugierde mehr über die Herstellung von Wein und Portwein in Portugal.
Bei meinen Recherchen tauchte immer wieder Madeira auf – mit seinen ganz eigenen Rebsorten und seiner bewegten Geschichte, die von Weinherstellung und -ausfuhr, Sklaverei und britischem Kolonialismus geprägt ist. Von Madeira, dieser Insel im Atlantik auf halbem Weg zwischen Portugal und Nordafrika, hatte ich noch nie etwas gehört.
Als meine Tochter aus Portugal zurückkehrte, brachte sie mir eine CD mit Fado-Aufnahmen aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren mit. Fado ist ein typisch portugiesischer Musikstil mit klagenden Melodien und Texten, in denen es oft um das Meer und ein Leben in Armut geht. In Zusammenhang mit dem Fado stieß ich auf das Wort saudade. Es lässt sich nur schwer übersetzen, meint aber die zutiefst wehmütige Sehnsucht nach etwas oder jemand Geliebtem.
Unterschwellig schwingt immer das Wissen mit, dass das Ersehnte für immer verloren sein könnte. Die Musik ist traurig und schön zugleich. In mir löste sie den Wunsch aus, wieder nach Portugal zu reisen. Nach der Arbeit an meinem vorherigen Roman und meiner bisher unproduktiven Schreibphase brauchte ich dringend eine Verschnaufpause. Ein paar Jahrzehnte zuvor war ich schon einmal in Portugal gewesen und hatte das Land kreuz und quer bereist. Portugal war mir in guter Erinnerung geblieben, aber ich wollte es noch einmal aus einer anderen Perspektive erkunden.
Das Schönste an der Entdeckung eines Landes besteht für mich darin, planlos und ohne bestimmte Erwartungen durch Straßen, Städte und Landschaften zu streifen. Ich möchte schauen, hören, schmecken, berühren. Und so stieg ich, als ich an der legendären Algarve war, in ein Auto und fuhr Richtung Westen. Ich kam nach Sagres, wo Heinrich der Seefahrer im fünfzehnten Jahrhundert die erste Navigationsschule gegründet hatte. Sechs Kilometer weiter gelangte ich zum Cabo de São Vicente, dem südwestlichsten Punkt Europas. Für die Seeleute, die aus Sagres fortsegelten, war es einst das »Ende der Welt«.
Wenn ihr Schiff Kurs auf den Atlantik nahm, um nach Westen in die Neue Welt zu segeln oder nach Süden zum Kap der Guten Hoffnung und von dort weiter nach Mosambik, Goa oder Macau, war die markante Landspitze das Letzte, was sie von Portugal sahen. An dem Tag, als ich am Cabo de São Vicente war, lag das Meer wie ein silberner Spiegel in der Sonne da.
Es war ein Ort des Friedens und der Magie. Ich roch den Ozean, spürte den salzigen Wind auf den Lippen und hörte das Geschrei der ruhelos kreisenden Seevögel. Der Blick aufs Meer erfüllte mich mit großer Ehrfurcht – und im selben Moment hatte ich die ersten Ideen für meinen Roman.
Ich stand auf der Klippe, die fast senkrecht zum Atlantik abfällt, und fragte mich, was die Seeleute einst gefühlt haben mussten, wenn sie von hier in die Ferne segelten. Für sie war nur eines sicher – dass sie keinerlei Sicherheiten mehr hatten. Würden sie je zurückkehren und die Menschen wiedersehen, die sie liebten? Oder würden sie Krankheiten, Piraten, Meutereien oder Mord zum Opfer fallen? Oder vom Meer selbst verschlungen werden?
Noch am selben Abend hatte ich plötzlich das Bild eines Seemanns vor Augen, den man auf dem Meer eines Verbrechens beschuldigte und über Bord warf. Ich stellte mir vor, dass er überlebte und irgendwo in Portugal an die Küste geschwemmt wurde. Das war alles, was ich vor mir sah – einen jungen Mann, der halbtot an einem einsamen Strand lag und sanft von den Wellen umspült wurde.
Nach der Algarve besuchte ich Lissabon, diese überwältigende Stadt mit ihren glänzenden Marmorplätzen und prächtigen Kirchen, den Kacheln und der feinen Spitze, dem Essen, der Musik und der zauberhaften Alfama mit ihren alten, steilen, gewundenen Gassen. Hier erfuhr ich, dass besonders die Jahre um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eine blühende, aber auch vom Unglück heimgesuchte Zeit gewesen waren, denn am 1. November 1755 war Lissabon von einem entsetzlichen Erdbeben erschüttert worden. Ich stieg zum Castelo de São Jorge hoch, der maurischen Festung auf einem der Hügel Lissabons, und sah auf die historische Altstadt und den Tejo hinab. Von dort aus konnte ich mir den einstigen Kai mit seinen Marmorgebäuden vorstellen, die Segelschiffe, das geschäftige Treiben der Menschen und die gewaltigen Wellen des Meeres, die, ausgelöst von dem Beben, über die Stadt hinweggerollt waren. Die Bilder ließen mich nicht wieder los, und plötzlich wollte ich unbedingt über diese Zeit schreiben. Weitere Notizen gesellten sich zu denen über den Seemann am Strand.
Von Lissabon aus fuhr ich ins herrliche Porto an der Mündung des Douro, wo schon seit vielen Jahrhunderten Wein aus dem Douro-Tal hergestellt wird.
Ich besichtigte Weingüter, verkostete viele Weine und fügte auch die Weinproduktion zu meinen Notizen hinzu – für die Geschichte Portugals war sie einfach zu wichtig, als dass ich sie mir entgehen lassen konnte. Und immer wieder stieß ich darauf, wie bedeutend Madeira im achtzehnten Jahrhundert für die Ausfuhr von Wein in alle Welt gewesen war. Die Idee, meinen nächsten Roman in Portugal anzusiedeln, erfüllte mich mit wachsender Begeisterung. Ich kehrte nach Kanada zurück und stürzte mich in die Arbeit.
Den Geschmack des vollmundigen portugiesischen Weins auf der Zunge und im Kopf all die Dinge, die ich gesehen und erfahren hatte, kreisten meine Gedanken um einen Seemann, die Gefahren des Meeres, saudade und die Weinkultur. Wie konnte ich mit diesen Dingen einen Roman beginnen? Mir war klar, dass die Handlung etwa in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts spielen sollte. In Büchereien, Buchläden und im Internet suchte ich mir weitere Informationen über das damalige Portugal zusammen. Meine Recherchen zu einem historischen Roman sind nie abgeschlossen, sondern integraler Bestandteil des Schreibens, das in diesem Fall über eineinhalb Jahre gedauert hat. Historische Authentizität mit den kreativen Seiten des Erzählens in Einklang zu bringen ist eine große Herausforderung. Ich nehme meine Recherchen sehr ernst und muss manchmal ganze Handlungsstränge ändern, wenn sie sich nicht mit den Tatsachen decken. Es gibt aber auch den gegenteiligen Effekt. Regelmäßig stoße ich auf Details, die ungeahnte kreative Schübe auslösen. Ich habe gelernt, dass man bei der Konstruktion der Handlung nicht unflexibel sein darf – manche Handlungsstränge nehmen eine vollkommen andere Richtung, wenn man tiefer in die Materie eindringt. Autoren historischer Romane benutzen meist nur die Hälfte ihres Wissens, weil ein Werk sonst weniger nach Literatur als nach einer Geschichtsvorlesung klingt. Die Frage, auf was man sich konzentrieren und was man weglassen soll, ist dabei von entscheidender Bedeutung.
Verwertbare Informationen zu finden war gar nicht so leicht. Es gibt kaum portugiesische Literatur aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, aber diese Herausforderung hat mich nur beflügelt. Zwei Bücher haben mich besonders inspiriert.
Neben wenigen – sehr wenigen – Romanen fand ich ein schmales Bändchen mit dem Titel Portugiesische Briefe. Die französische Originalausgabe stammt von Gabriel de Lavergne, der die schlichten, aber leidenschaftlichen und herzzerreißenden Liebesbriefe der Nonne Mariana Alcoforado an einen namenlosen französischen Offizier entdeckt und 1669 veröffentlicht hatte. Es gibt auch einen Roman, der diese Geschichte aufnimmt: Letters of a Portuguese Nun von der Gegenwartsautorin Myriam Cyr, die das Geheimnis hinter dieser verbotenen Liebe des siebzehnten Jahrhunderts zu ergründen sucht. Das Thema faszinierte mich sofort.
Immer mehr Teile der Geschichte fügten sich ineinander. Und nachdem ich mich neun Monate lang in die portugiesische Literatur versenkt hatte, war mir das Land ans Herz gewachsen. Ich hatte genug recherchiert und geschrieben, um zu wissen, dass ich den Roman vor allem auf den beiden Hauptinseln des Archipels Madeira ansiedeln würde. Madeira sollte es sein, das wunderschöne geheimnisvolle Madeira, diese grüne nebelige Insel mit ihren Bergen, Klippen und den auf Felsterrassen angelegten Weinbergen, die zu den fruchtbarsten und ertragreichsten der Welt gehören. Und Porto Santo, die kleine Schwesterinsel, karg, abgelegen und nur spärlich von Bauern und Fischern besiedelt. Nun hatte ich also die Handlungsorte, die sehnsuchtsvolle Liebe einer Frau, den Wein und meinen jungen Seemann, der an einem abgelegenen Strand auf Porto Santo angespült wurde. Ich wusste, dass er auf der Insel bleiben musste, weil er sich nach seiner Verurteilung woanders nicht mehr blicken lassen konnte. Ich stellte mir vor, woher er ursprünglich stammte und wie er aufs Meer gelangt war, und malte mir sein neues Leben auf der Insel aus. Und plötzlich erschien eine Frau am Strand und wanderte mitten in meine Geschichte hinein, eine Figur, mit der ich nicht gerechnet hatte. In meiner Fantasie sah ich, dass sie aus Nordafrika kam und auf der Insel eine Fremde war, fast eine Wilde. Ihre Trünke und Pulver, die sie aus Kräutern und anderen Pflanzen herstellte, hatten heilende Kraft, und auch die dunkle Seite der Heilkunst – die Zaubersprüche für die Abergläubischen – beherrschte sie. Im nächsten Moment war mir klar, dass der Seemann und die wilde Frau eine Tochter miteinander hatten. Sie hieß Diamantina. Von heidnischen Eltern in ein tief religiöses Umfeld hineingeboren, war sie von Geburt an geächtet. Auf dieses Mädchen hatte ich gewartet. Es war Diamantinas Geschichte. Plötzlich wusste ich ohne jeden Zweifel, dass ich nicht nur Schauplatz und Rahmen, sondern auch die Hauptfigur gefunden hatte.
Mit diesen Entscheidungen floss mir der Roman aus der Feder. Und ich nahm mir vor, noch einmal nach Portugal zu fahren, um unzählige Details zu klären. Die besten Szenen fallen mir ein, wenn ich mich an dem Ort aufhalte, über den ich schreibe, und dieselben Wege zurücklege wie meine Protagonisten.
Das ist die magische Seite am Schreiben. Der praktische Vorteil besteht darin, dass man spannendes Material wie Bücher, Broschüren, Fotos und Gemälde meist nur vor Ort findet. Von Kanada aus würde man sich viele dieser Dinge nie beschaffen können.
Also flog ich direkt nach Madeira. Es war noch viel überwältigender, als ich es mir vorgestellt hatte. Bewaffnet mit Kamera und Notizbuch – und dem Laptop im Hotelzimmer – erkundete ich Funchal, vom Meer bis hinauf zu den Quintas über der Stadt. Dann fuhr ich über die Insel, hielt in Dörfern, besuchte Kirchen und Friedhöfe, Weingüter, Cafés und Bars und lauschte den berührenden Melodien des Fado. Ich wanderte über die Wege neben den levadas – Wassergräben, die vor vielen Jahrhunderten von Sklaven angelegt worden waren, um die Reben zu bewässern. Auf Madeira schritt die Arbeit an Handlung und Figuren zügig voran, weil mich die Menschen und die vielen Erlebnisse inspirierten.
Dann setzte ich nach Porto Santo über, das man heute mit der Fähre in zwei Stunden erreicht – damals war es mit dem Segelschiff eine Tagesreise. Auf der kleinen Insel versuchte ich, dem Rhythmus eines isolierten Lebens mitten im Ozean nachzuspüren. Ich wanderte über den Strand, an dem mein Seemann angespült wird und später seine Tochter Diamantina lebt. Ich sog den Geruch von Wind und Meer ein und schaute in den Himmel, an sonnigen Tagen und in sternenklaren Nächten. Über die Geschichte von Porto Santo erfuhr ich allerdings kaum etwas. Die Insel ist sehr klein und hat nur wenige Bewohner, die in der einzigen kleinen Stadt, Vila Baleira, und ein paar über die Insel verstreuten Weilern wohnen. Die Geschichte von Porto Santo ist fast nur mündlich überliefert, und das Wenige, das ich von den Einwohnern erfuhr, konnte ich für meinen Roman nicht verwerten – dass Kolumbus eine Frau von der Insel geheiratet hatte, zum Beispiel. Statt mich davon entmutigen zu lassen, beschloss ich, die Freiräume zu nutzen.
Ich saß an einem Tisch in einer kleinen, gepflasterten Straße, aß Rindfleisch, das vor meinen Augen auf einem zischenden Lavastein garte, und beobachtete die Menschen, die auf dem nahe gelegenen, ruhigen Platz unter den Palmen hockten. Hunde lagen in der Sonne und schliefen. Ich betrachtete
die alte Kirche, Nossa Senhora da Piedade, die in meinem Roman eine Rolle spielen sollte. Nicht weit entfernt, am Ende der einzigen Hauptstraße, die zum Meer hinabführt, befindet sich ein langer Kai, der seit dem achtzehnten Jahrhundert unzählige Male erneuert worden ist. Ich sah vor mir, wie Diamantina den schattigen Platz überquert, der für einen feierlichen Anlass mit flatternden Blumengirlanden geschmückt ist; sie geht an der Kirche vorbei zum Kai, um die Schiffe fortsegeln und einlaufen zu sehen.
Ich wurde vom Leben auf der Insel mit ihren freundlichen Menschen regelrecht absorbiert und kam mit meinen Notizen kaum hinterher. So ist es immer, wenn ich mich für einen Roman in andere Welten versenke: Je mehr auf mich einstürmt, desto empfänglicher bin ich für das, was mir dieses neue Universum offenbart. Mir ist bewusst, wie mystisch das klingt – aber irgendwie ist es das ja auch. Ich bilde mir gerne ein, dass eine Geschichte leichter zu mir findet, wenn ich mich ihr bedingungslos hingebe.
Schließlich flog ich noch einmal nach Lissabon. Erneut lief ich durch die Straßen, fotografierte, machte mir Notizen und schlenderte über den Feira da
Ladra, den »Flohmarkt der Diebin«, um in alten Schätzen herumzuwühlen. Bei einem alten würdevollen Herrn erwarb ich eine wunderschöne Kachel. Um das kleine Geschäft zu feiern, bot er mir ein Gläschen Kastanienlikör an. Ich beschloss, der auch auf Madeira beliebten Spezialität einen Ehrenplatz in meinem Roman einzuräumen. Ebenso den pastéis de nata, Portugals berühmtester Gebäckspezialität, kleinen Cremetörtchen, die angeblich im siebzehnten Jahrhundert in der Gemeinde Santa Maria de Belém von Nonnen erfunden wurden. Da die Nonnen viel Eiweiß brauchten, um ihre Schleier und Wimpel zu stärken, benutzten sie das Eigelb zum Backen. Eine Offenbarung!
Auch Beléms berühmtes Kloster Mosteiro dos Jerónimos, in dem Vasco da Gama begraben liegt, fand seinen Weg in meinen Roman. Im stillen Innern der Kirche beteten einst die Seeleute, bevor sie wieder in See stachen, um eine sichere Reise.
Um aus der Perspektive einer Figur erzählen zu können, muss man selbst zu dieser Figur werden und sich auf eine andere Welt einlassen. Genauso erlebe ich es, wenn eine meiner Figuren ins Leben tritt. Indem ich zu Diamantina wurde und in ihrer Welt am Strand von Calheta und Vila Baleira weilte, vernahm ich ihre Stimme klar und deutlich. Irgendwann kannte ich sie gut genug, um ihre Geschichte vollständig erzählen zu können, nicht nur ihre Kindheit auf Porto Santo, sondern auch ihr Leben in Madeira und Lissabon.
In meinen Romanen schreibe ich gerne über starke, unabhängige Frauen, die in Zeiten lebten, als Frauen alles andere als unabhängig waren. Die beschränkten Möglichkeiten einer Frau im Portugal des achtzehnten Jahrhunderts – sie konnte heiraten oder Nonne werden – hatten für meinen Roman einen ganz eigenen Reiz. Diamantina gilt in den Augen der Kirche und der gesamten Insel als Heidin. Ohne Taufe würde kein portugiesischer Mann sie heiraten, und Nonne kann sie auch nicht werden. Was soll sie also tun? Was kann sie überhaupt tun? Wie kann sich ihr Leben entwickeln? Das Spannende für mich bestand darin, eine Figur zu schaffen, die aus den Maßstäben ihrer Welt herausfällt. Ich musste einen Weg finden, wie Diamantina ihr Leben selbst in die Hand nehmen kann, da mit ihrer Herkunft aus einer unkonventionellen Familie der Grundkonflikt des Romans vorgegeben war.
Diamantina muss sich ein Leben jenseits der konservativen Modelle für die Frauen auf Porto Santo oder Madeira suchen und eigene Entscheidungen treffen. Sie sollte liebenswürdig sein, intelligent und temperamentvoll, aber sie sollte auch Schwächen haben. Ich habe eine neugierige, tapfere, verletzliche und mitfühlende junge Frau geschaffen, eine Frau mit einem starken Willen und von großer Entschlossenheit. Sie hat Ängste und fühlt sich oft unsicher, weil sie in ihrer Umgebung eine Außenseiterin ist, aber sie zeigt das nicht gern, sondern verbirgt ihre Gefühle. Dabei sehnt sie sich wie die meisten Menschen nach Nähe, Liebe und dem Gefühl der Zugehörigkeit. Ihr Vater liebt sie, und als er geht, fühlt sie sich einsam und verlassen. Ihre Mutter ist zu sehr in sich gekehrt, um ihr zu geben, was sie braucht. Auch sonst hat Diamantina keine Verbündeten auf der Insel – nur den Wunsch, von Porto Santo fortzukommen, um ein besseres Leben zu finden.
So wie Diamantina viele Entscheidungen treffen muss, scheint mir auch das Schreiben darin zu bestehen, Entscheidungen zu treffen. Aus den ersten Eingebungen ist nach und nach eine Geschichte entstanden. Mir war klar, dass ich nicht auf Biegen und Brechen an meiner ursprünglichen Idee festhalten durfte, sondern mich öffnen, neue Wege beschreiten und dabei meinem Instinkt vertrauen musste. Die Wege haben zu Die Tochter des Seefahrers geführt. Den Roman zu schreiben war eine wunderbare Reise, und ich hoffe, Sie werden Ihre Reise als Lesende genauso genießen.

Linda Holeman
im Februar 2015
Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Franz

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