URSPRUNG
Die Oktobersonne ist heiß wie das Blut des wütenden Mobs. John Paul folgt der grölenden Menge, die die drei jungen Männer vor sich hertreibt. Man hat sie nackt ausgezogen, ihre Hodensäcke sind vor Angst geschrumpft, die Wunden, die man ihnen schlägt, werden nie vernarben. Stöcke. Steine. Ziegel. Eisen. Knochen brechen, Blut fließt. Aufplatzende Haut lässt kurzlebige Schreie aus erschöpften Lungen entweichen. Die Männer fallen hin, werden aber gleich wieder hochgerissen und durch die Straßen geschleift, zu einem Ort, den niemand ausgewählt hat, den aber alle zu kennen scheinen.
Am Tag zuvor hat es geregnet, und die rote Erde ist an vielen Stellen matschig. Wenn die jungen Männer hier fallen, werden sie noch tiefer in den Dreck getreten, ihr Blut vermischt sich mit dem Schlamm. Als ihnen dann die Autoreifen umgehängt werden wie überdimensionale Halsketten, als der Benzingeruch so stark wird, dass manche in der Menge sich die Nase zuhalten, hat der Wahnsinn den Tag schon im Würgegriff, den er nicht mehr lockern wird. Ein Streichholz wird angerissen und gebiert eine Flamme, während im gleichen Moment ein Ziegelstein einem der Männer den Schädel zertrümmert. Mit der Hirnmasse entweicht das Leben, weshalb er nicht aufheult und sich windet wie die beiden anderen, als das Feuer an ihrer Haut und ihren Haaren zu züngeln beginnt.
Das Handy vibriert in John Pauls Hand. Die Ladeanzeige blinkt rot. Er lässt das Smartphone sinken und blickt sich um. Er ist nicht der Einzige, der die Hinrichtung digital aufzeichnet. Er überlegt, das Handy zu benutzen, das er einem der brennenden Männer abgenommen hat, bevor der Mob über sie herfiel, aber das wäre zu viel der Ironie. Es ist ohnehin vorbei. Zeit zu gehen. Als John Paul den Platz verlässt, folge ich ihm im Schatten, doch das Bild des Albtraums, den er geschaffen hat, werde ich nicht mehr los. Und weil er sich nicht umblickt, kann ich es auch nicht.
DAS WARUM, NICHT DAS WAS
(…)
Dass ich heute in den frühen Morgenstunden so hastig meine Taschen gepackt und das Haus verlassen habe, hatte tatsächlich wenig mit Überpünktlichkeit zu tun, dafür umso mehr mit meinem Wunsch, der Frage auszuweichen, die mich mehr als alles andere beschäftigt: Hast du eine Affäre? Es hat mich all meine Willenskraft gekostet, mir heute Morgen diese Frage zu verkneifen, als Folake in ihrem leichten Baumwollhausmantel vor mir stand, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie hatte ihre langen Locken aus dem Gesicht zurückgebunden, sodass der Ausdruck von Missbilligung, mit dem sie mir beim Packen zuschaute, nicht zu übersehen war.
»Du willst das wirklich tun?«
»Ja«, brummte ich und tat so, als ob ich Unterhosen abzählte.
»Und es ist dir egal, dass ich es für eine schlechte Idee halte?«
Ich legte die Boxershorts in meinen Koffer und antwortete in einem – wie ich hoffte – besonnenen und neutralen Tonfall: »Das haben wir doch schon ausdiskutiert, Folake.«
»Du bist kein Detektiv, Philip.« Sie betonte meinen Namen, wie sie es immer tut, wenn sie darum ringt, die Geduld zu wahren.
»Dein Vertrauen in mich ist mir Inspiration und Motivation zugleich«, erwiderte ich betrübt.
»Komm mir nicht so! Niemand hat mehr Vertrauen in dich gezeigt als ich!«
»Und du findest, jetzt reicht es allmählich?«
»Du kannst nicht in irgendein Dorf fahren, um einen Fall zu lösen, der schon vor über einem Jahr zu den Akten gelegt wurde, und dann erwarten, dass ich eine rauschende Abschiedsparty schmeiße.«
Ich drehte mich um und sah ihr endlich in die Augen. »Ich löse keinen Fall. Ich untersuche, warum das, was passiert ist, passiert ist.«
»Was ist das denn anderes als einen Fall lösen? Du kannst doch wohl kaum verstehen, warum etwas passiert ist, ohne zu wissen, was passiert ist?«
Wenn ich in diesem Moment zu einer Erklärung meiner Arbeit als investigativer Psychologe angesetzt hätte, wäre ich jetzt nicht hier, um auf meinen verspäteten Flug zu warten. Obwohl wir uns bei unseren Promotionen gegenseitig unterstützt haben, tut meine Frau, wenn es ihr gerade in den Kram passt, immer noch so, als verstünde sie nicht, was ich mache.
»Folake, das ist eine Chance, meine Fähigkeiten in der wirklichen Welt anzuwenden …«
»In einer wirklich gefährlichen Welt«, unterbricht sie mich scharf. Nun ja, ganz ungefährlich mag es nicht sein, wenn jemand wie ich, der bis vor acht Monaten den größten Teil seines Erwachsenenlebens in den USA verbracht hat, nach Okriki reist. Aber es wäre nett gewesen, wenn meine Frau stattdessen gesagt hätte: Geh nur, Schatz. Wenn irgendjemand herausfinden kann, warum drei Studenten von einem aufgebrachten Mob verbrannt wurden, dann bist das du. Du hast es drauf.
»Es ist ein waghalsiges Unterfangen, und das weißt du! Mir ist schleierhaft, was du damit beweisen willst.«
»Dass ich mehr bin als nur ein mittelmäßiger Akademiker ohne Festanstellung«, gab ich zurück und musste mich beherrschen, um nicht zu schreien.
»Die Festanstellung bekommst du nicht, indem du deine Familie zurücklässt, um einen dreifachen Mord zu untersuchen«, entgegnete sie in nicht minder schneidendem Ton.
Aber es wird mich davon ablenken, dass du mich wahrscheinlich betrügst. Das sagte ich natürlich nicht laut. Ich hasse Streit, vor allem, wenn es laut wird. Außerdem gibt es nicht viele Menschen, die sich in einem Wortgefecht mit Professor Afolake Taiwo behaupten können, der jüngsten Professorin für Rechtswissenschaft an der Universität Lagos. In fast siebzehn Jahren Ehe habe ich kaum je in einem Streit mit meiner Frau die Oberhand behalten.
»Okay, Philip. Sagen wir, du gehst dorthin, und du findest heraus, was wirklich passiert ist oder warum es passiert ist. Was dann? Was willst du tun? Ein Buch schreiben?«
»Wir sind hier in Nigeria, Folake«, sagte ich mit sarkastischem Unterton. »Da gräbst du nicht die Details eines Lynchmords aus in der Hoffnung, einen Bestseller daraus zu machen.«
»Dann sag mir doch um Himmels willen, was du dir erhoffst?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass der Vater eines der Opfer mich engagiert hat, um …«
»Ja, ja, ich weiß.« Sie warf die Hände in die Luft und rollte die Augen. »Er will, dass du einen Bericht schreibst, weil er nicht glaubt, dass sein Sohn ein Dieb war, obwohl alles in den sozialen Medien dokumentiert ist.«
»Hast du das Video gesehen?«
Folake schüttelte sich.
»Ich habe es mir mindestens hundert Mal angeschaut«, fuhr ich schnell fort, damit sie nicht wiedergeben musste, was sie auf einer der Websites gesehen hatte, auf denen der Tod der Okriki Three gepostet worden war. »Und weißt du was? Jedes Mal kommt mir der gleiche Gedanke: Die Leute können doch nicht so verrückt sein, dass sie drei junge Männer am helllichten Tag verbrennen, nur weil man sie beim Klauen erwischt hat.«
Folake setzte sich aufs Bett und ließ die Schultern hängen. Ich war mir nicht sicher, ob es wegen unseres Streits war oder wegen meiner Erwähnung des grausamen Videos.
»In diesem Land ergibt nichts einen Sinn«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
»Alles ergibt einen Sinn, wenn du weißt, warum die Menschen tun, was sie tun.«
»Leeres Psychogeschwätz!«, stieß sie gereizt hervor, dann schlug sie sich die Hand vor den Mund, wie um ihre Worte zurückzunehmen. Sie hatte eine Grenze überschritten, und sie wusste es.
Ich beschäftigte mich umständlich mit dem Reißverschluss meines Koffers, bis ich mir sicher war, dass ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle hatte. Als ich sie wieder ansah, war meine Stimme so neutral wie zu Beginn unseres Gesprächs.
»Danke. Ich werde jetzt gehen und mein Psychogeschwätz bei einem Auftrag anwenden, für den ich großzügig entlohnt werde. Entschuldige mich.«
Ich nahm den Koffer und verließ rasch das Zimmer, ehe sie Zeit hatte, sich zu besinnen.
Die wütende Stimme eines weiteren Fluggasts reißt mich aus meinen Gedanken. »Das ist inakzeptabel! So etwas gibt es doch nur in Nigeria!« Ich schätze, dass es noch ungefähr eine Stunde dauern wird, ehe die erzürnten Passagiere und das unfreundliche Bodenpersonal der Airline zu Handgreiflichkeiten übergehen.
Ich hingegen wende meine Aufmerksamkeit dem einen Gegenstand zu, den ich zu verstehen gelernt habe. Einem Tatort.
CHECKLISTE
Tatorte lassen sich auf einer Skala von ordentlich bis unglaublich chaotisch einordnen. Ich (…) denke über die Worte meines alten Lehrers und Mentors Professor Albert Cook nach. »Der Tod ist Mist, Philip, aber Sterben ist eine Riesensauerei.« Der Prof, wie ich ihn immer noch liebevoll nenne, hat sich nie die Vorstellung zu eigen gemacht, dass ein Tatort sich in eine vorgegebene Typologie einordnen ließe. Er sagte immer: »Menschen bauen Mist, und darin liegt der Schlüssel zu dem, was wirklich passiert ist.« Der Prof war mein Doktorvater an der University of Southern California, mein erster Chef, und er war derjenige, der mich in das im Entstehen begriffene Gebiet der investigativen Psychologie einführte. Er ist inzwischen emeritiert, aber keineswegs im Ruhestand, immer noch damit beschäftigt, »im Dreck anderer Leute rumzuwühlen«, wie er es ausdrückt. Vielleicht sollte ich ihm den YouTube-Link mit der Hinrichtung der Okriki Three schicken. Es wäre interessant, die Gedanken des alten Mannes zu dieser speziellen Riesensauerei zu hören.
Ich werfe einen Blick in meine Notizen. In die Spalte, die ich mit Organisierter Tatort überschrieben habe, male ich ein großes Fragezeichen. Wenn man bedenkt, wie sehr sich die Wut der Menge offenbar auf die drei jungen Männer konzentrierte, die sie tötete – die sie ermordete –, dann könnten zumindest einige der Kriterien für einen organisierten Tatort zutreffen. Etwa die Aggression, die gegen die Opfer gerichtet wurde, bevor man sie verbrannte. Ein klassischer Fall von Vorsatz. Und dann die Reifen. Die sind doch kaum einfach aus dem Nichts aufgetaucht. Jemand – ob eine Person oder mehrere – muss sich die Mühe gemacht haben, sie an den Tatort zu bringen, den ich für diesen Analyseschritt auf den Ort beschränke, wo die jungen Männer letztendlich getötet wurden.
Personalisierung des Opfers/der Opfer. Theoretisch kann man davon ausgehen, dass ein Lynchmord nichts Persönliches ist und daher die Charakteristika eines unorganisierten Tatorts aufweist. Praktisch jedoch kann angesichts der übermäßigen Gewalt, mit der die Okriki Three getötet wurden, eine kollektive Aggressionsverschiebung nicht ausgeschlossen werden. Da die jungen Männer des Diebstahls beschuldigt wurden, könnte vielleicht eine beträchtliche Anzahl ihrer Angreifer Opfer von früheren ungesühnten Raubüberfällen gewesen sein. Aber ist dieses Argument auch haltbar, wenn es sich um fast hundert wütende Menschen handelt? I
Ich setze mehrere Fragezeichen hinter »Personalisierung« und schreibe: Daten zur Rate von Raubüberfällen vor oder während des Monats der Morde ermitteln. Es gibt noch weitere Indikatoren für einen organisierten Tatort: dass von den Opfern Unterwürfigkeit verlangt wird und sie irgendwann im Lauf der ganzen erschütternden Prozedur gefesselt werden. Beides sind klassische Kriterien. Aber damit enden die Übereinstimmungen mit der Typologie organisierter Tatorte.
(...) Ich nehme mir die Liste der Charakteristika eines nicht organisierten Tatorts vor.
Leichen am Tatort zurückgelassen. Trifft zu.
Leichen werden nicht versteckt oder zugedeckt. Trifft zu.
Depersonalisierung der Opfer. Trifft zu.
Ich kreise diesen Punkt ein. Kann ich mit Sicherheit davon ausgehen? Ist es möglich, dass niemand die jungen Männer gekannt hat? Was ist mit der Person, die behauptet hatte, ausgeraubt worden zu sein?
Ich schreibe: Person, die Alarm geschlagen hat, befragen.
Minimaler verbaler Austausch. Ein Lynchmob lässt sich nicht auf Diskussionen oder Verhandlungen mit seinen Opfern ein. Trifft auch zu.
Spontaneität …
Offenbar ist die Menge über die Jungen hergefallen, nachdem Alarm geschlagen wurde, weil sie angeblich einen anderen Studenten außerhalb des Campus beraubt hatten. Da man ausschließen kann, dass hundert wütende Menschen nur auf der Lauer lagen, bis sie dazu aufgefordert wurden, sich an einem Necklacing-Mord zu beteiligen, trifft dieser Punkt ebenfalls zu.
Es stimmt – Sterben ist eine Sauerei. Die Widersprüchlichkeit der Kriterien bei diesem Tatort ist verwirrend, kann aber auch einmalige Möglichkeiten eröffnen. Ich darf nicht vergessen, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen, bis ich noch weitere Daten zur Verfügung habe, die über die Standfotos aus den YouTube-Videos und die Befragungen der Eltern der Opfer hinausgehen.
Ich schreibe: Ein einzelnes Motiv, verdeckt durch ein kollektives Ziel oder Vorurteil? Das könnte die unklare Typologie erklären, das aufschlussreichste Kriterium eines unorganisierten Tatorts.
Unerwartete und plötzliche Gewalt gegen Opfer. Trifft zu.
Hier halte ich inne. Wie unerwartet und plötzlich war die Gewalt denn? Was die Beteiligten und Betroffenen über ein Verbrechen aussagen, ist genauso wichtig wie der Tatort selbst. Die Motivationen der Befragten – Täter, Opfer oder Zeugen – können ein entscheidendes Licht auf das werfen, was tatsächlich passiert ist. Ich blättere weiter zu der Seite, wo ich mir den Namen notiert habe: Emeka Nwamadi.