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Rezensionen zu
Herbst

Ali Smith

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€ 22,00 [D] inkl. MwSt. | € 22,70 [A] | CHF 30,50* (* empf. VK-Preis)

'Herbst' von Ali Smith ist ganz schön besonders. Häufig wird das Buch als Brexit-Roman beschrieben, für mich war es aber vor allem die Geschichte einer ganz besonderen Beziehung. Elisabeth und Daniel: kein Liebespaar, nicht verwandt, keine Sandkasten- oder Studienfreunde, ein Altersunterschied von über 60 Jahren. Trotz dieser scheinbaren Distanz sind sie so stark miteinander verbunden, haben ein solch außergewöhnliches Verständnis voneinander, dass man geneigt ist, das Wort Seelenverwandte zu verwenden. Was die beiden verbindet, ist die Liebe zur Kunst, zu ungewöhnlichen Blickwinkeln, zur Literatur und natürlich zueinander. Obwohl sie sich zwischenzeitlich aus den Augen verlieren und lange keinen Kontakt haben, ist Elisabeth sofort zur Stelle, als sie erfährt, dass Daniel im Krankenhaus liegt. Fast täglich sitzt sie an seinem Bett, liest, erinnert sich an die gemeinsame Zeit zurück. An seinen ungewöhnlichen Blick auf die Welt, den Verlust seiner großen Liebe, von dem er ihr eigentlich nie richtig erzählt hat, an die Musik, die er geschrieben hat. Und ja, natürlich geht es nebenbei auch um die Veränderung in der britischen Gesellschaft. Um Zäune, um Nachbarschaftspatrouillen, um Google Suchanfragen zur EU, um das Referendum, um die Hürden der Bürokratie und um Ausländerfeindlichkeit. Was den Roman außerdem ausmacht, ist ganz klar die Sprache. Nicht nur der Inhalt des gesagten, sondern auch der Klang, die Wahrnehmung von Wort- und Schriftbild spielt eine Rolle. Was anfangs noch etwas verwirrt, wird ganz schnell zu einem Symbol der verspielten, zärtlichen und außergewöhnlichen Beziehung der Beiden. Ich kann das Buch wirklich empfehlen, wenn ihr nicht nur Lust auf geradlinige Stories habt, sondern euch auch gerne mal für Wortspiele und Lyrik im weitesten Sinne begeistern könnt. 'Herbst' ist der erste auf Deutsch veröffentlichte Teil von Smiths Jahreszeitenquartett - 'Winter' ist gerade erst erschienen und ich freue mich schon sehr drauf. Die Übersetzung kommt von Silvia Morawetz. Vielen lieben Dank an den @luchterhand_verlag für das Rezensionsexemplar!

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>>Sprache ist wie Mohnblumen. Sie nimmt etwas und wühlt die Erde drum herum auf, und schon kommen schlafende Wörter zum Vorschein und werden, leuchtend rot und frisch, überallhin verweht.<< „Herbst“ von Ali Smith ist für mich ein unheimlich besonderes Buch. Beim Lesen zog es mich in einen unglaublichen Lesezog und konnte mich mit seiner Wortgewandtheit und der darin eingebundenen Lyrik sehr sehr begeistern! Für mich persönlich stand thematisch hier die Beziehung zwischen Elisabeth und Daniel Gluck und das Altwerden sehr im Vordergrund. Mich konnte es berühren und all die Worte und Zeilen der Autorin hatten für mich hier große Wortkraft. Der Schreibstil und auch die Art der Geschichte ist hier doch eher speziell und ich glaube inhaltlich könnte es sich für viele doch eher wie ein Chaos lesen, doch sind es meiner Meinung nach einfach die Feinheiten, die hier Beachtung verdienen und die einen hier wirklich sehr fesseln können, wenn man sich denn darauf einlasen kann und sich durch all die Besonderheiten gleich angesprochen und gefühlsmäßig angezogen fühlt. >>Es geht darum, wie wir unsere Lebensumstände betrachten,... dass wir hinschauen und erkennen, wo wir stehen,...<< Mich hat dieser erste Band des Jahreszeitenquartett von Ali Smith sehr sehr begeistert und zählt klar zu meinen literarischen Highlights in diesem Jahr! Daher kann ich es jedem sehr ans Herz legen, der sich auf das Spezielle einlassen möchte.

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edes Buch hat es verdient, mit voller Aufmerksamkeit gelesen zu werden. Dieses hier musste eine kleine Ewigkeit darauf warten, aufgeschlagen zu werden. Umso besser, denn: Passend zum Oktober-Start habe ich mit Ali Smiths „Herbst“ begonnen und es binnen von 2 Tagen nahezu atemlos durchgelesen. Dieser außergewöhnliche Roman hat mein Denken so sehr eingenommen, dass ich mich tatsächlich rhetorisch fragen musste: Kann diese Art von Literatur jemals übertroffen werden? Akutes Fazit: Nur allzu schwer. Denn wer Gegenwart in solcher Weise mit Literatur verschränkt, kann nur die Führung der literarischen Disziplin ‚Realitätsdurchdringung‘ inne haben. „Herbst“ ist der erste Band der Jahreszeiten-Quadrologie von Ali Smith, der - so möchte ich es lesen - eine tragisch schöne Geschichte über eine unmögliche Liebe thematisiert. Elisabeth ist Anfang 30 als wir sie als Kunst-Dozentin kennenlernen, die eine außergewöhnliche Beziehung zu Daniel Gluck pflegt. Daniel hingegen ist - das erfahren wir etwas später im Roman - 101 Jahre alt als er in einem Pflegeheim tagelang schlafend auf den Tod wartet. Zwischen diesen Figuren spinnt sich eine interessante Handlung zusammen, die vor dem Hintergrund des Brexit übergeordnete Fragen nach der ‚Zeit‘, dem Altern, der Kunst und der Sinnsuche behandelt. Elisabeth ist ein kleines Mädchen, als sie ihren Nachbarn Daniel kennenlernt - dieser selbst Kunstliebhaber und -sammler eröffnet dem neugierigen Mädchen die Welt der Literatur und Intellektualität. Die sich - und das ist eine der Kernaussagen des Romans - vor allem in der Etablierung eines eigenen Sehens der Welt ausweist. Elisabeth lernt mit den Geschichten, den der alte Daniel ihr bei langen Spaziergängen im Feld erzählt, autonomes Denken und das Versprachlichen eigener Ansichten, Eindrücke und Wünsche. Natürlich fragt man sich die ganze Zeit über, was es mit dieser Beziehung auf sich hat, die Elisabeths Mutter zwischenzeitlich sogar verbieten will, weil ‚komisch‘. Und keine Frage: Ab und an scheinen Momente einer tief verborgenen Sinnlichkeit auf, die vor allem von Elisabeth ausgehen, die sich vielleicht nur nach einem Vater sehnt, den sie in der Kindheit nie gehabt hat, bis sie einen Traum, den sie neben Daniels Pflegebett träumt, ausspricht: „Mit Daniel schlafen, so ist das also.“ Wie der Roman ausgeht oder ‚wohin‘ er generell geht - das ist gar nicht so einfach zu greifen. Aber gerade von dieser Undurchsichtigkeit und Vagheit lebt jede Zeile dieses besonderen Romans, der für mich nur eines zum Ziel haben kann: Die Offenlegung diverser Denkansätze, die dazu führen, Gegenwart und Vergangenheit als zwei Ereignisse zu verstehen, die sich stets bedingen, sich gegenseitig beleuchten und erklären, voneinander schöpfen und einander formieren. Damals und jetzt. Danke an den wunderbaren Luchterhand Verlag für dieses Rezensionsexemplar!

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Ali Smith ist keine leicht zu lesende Autorin, und doch sind ihre Worte und Gedanken schön. Wenn euch eine lineare Handlung gefällt, werden Sie sie hier nicht finden, obwohl sie meist in der Zeit nach Brexit angesiedelt ist, sie geht in der Zeit vor und zurück. Zu einer Freundschaft zwischen einem jungen Mädchen und einem älteren Mann, einem Mann, der eine ziemliche Vergangenheit hatte, die langsam aufgedeckt wird. Die Gedanken, die über Brexit geäußert werden, sind die gleichen, die viele hier in den Staaten nach unserer jüngsten Wahl zum Ausdruck bringen. Wunderbar und geschickt ausgedrückt über die Art und Weise, wie viele von uns fühlen. Sie liebt es, mit Worten zu spielen, mit Szenen zu spielen, das ist manchmal eine Herausforderung, aber wenn man nur liest und nicht erwartet, dass sie sich an die vermeintlichen Regeln der Fiktion hält, sind diese Dinge oft entzückend. Sie erforscht die Zeit, sie vergeht, vom Herbst in den Winter, von der Vergangenheit in die Gegenwart, von jung in alt, so wie die Jahreszeiten uns verändern. Sie wirft einen Pop-Art-Künstler ein, den Christine Keeler-Skandal, den ich nachschlagen musste, weil ich nicht aus Großbritannien stamme. Ihre Beschreibung der natürlichen Welt ist absolut großartig. Auf der anderen Seite bietet Ali Smith aber auch eine Form von Sicherheit und Beständigkeit: nämlich die große Freundschaft, die sich zwischen Elisabeth und dem 70-jährigen Daniel entwickelt hat und die wir durch einige großartige Rückblenden allmählich kennen lernen. Besonders die Figur des Gluck ist verlockend; er erinnert mich an die Erzähler in den Romanen der AG Sebald: ein Mann deutscher Abstammung mit einer enormen Vergangenheit (auch mit einem klaren Bezug zum Holocaust), mit großer Gelehrsamkeit und einem kritischen Sinn und mit Tentakeln sowohl in der Hoch- als auch in der Populärkultur; für Elisabeth ist er der Meister, den jeder von uns gerne gehabt hätte. Das Buch steht im Mittelpunkt ihrer Freundschaft, daher Glucks letzte Worte in diesem Buch an Elisabeth: "Schön, Sie zu sehen. Was lesen Sie?". In gewisser Weise bieten die vielen Hinweise sowohl auf die höhere als auch auf die niedere Kultur sowie auf den politischen Kontext eine Art Vertrautheit und Trost. Es mag ein wenig hochgestochen klingen, aber für den aufmerksamen Leser sind die Hinweise auf und Parallelen zu Dickens, Huxley, Homer, Ovid, Kafka, Cocteau, Vian, Beckett usw. ziemlich erkennbar. Aber es gibt nicht nur die höhere Kultur, sondern auch Hinweise auf Werbespots und auf populäre Lieder. Und dann gibt es den politischen Aspekt. Es scheint mir, dass Smith ihren Roman ursprünglich um den so genannten Profumo-Skandal herum aufgebaut hatte, der Großbritannien Anfang der 1960er Jahre in seinen Grundfesten erschütterte, einen Spionageskandal mit dem Callgirl Christine Keeler im Mittelpunkt. Genau wie der Brexit-Skandal war dies ein politisches Thema, das hauptsächlich auf Lügen und falschen Wahrnehmungen beruhte. Sowohl der Skandal als auch die Figur Keeler werden in diesem Roman regelmäßig als geschlechtsspezifisches Element genannt (das im Werk von Ali Smith oft wiederkehrt), aber sie fungieren am stärksten als Symbole der Verblendung, Unsicherheit und Vergänglichkeit. So hat ihr beispielsweise die Pop-Künstlerin Pauline Boty ihr berühmtestes Werk gewidmet: eine Collage um das berüchtigte Foto des nackten Keeler, der auf einem umgedrehten Stuhl sitzt. Ich persönlich fand es etwas schwierig, diese Verweise zu platzieren, da ich nicht wirklich damit vertraut war, wofür der Profumo-Skandal stand. So ist dieses Buch manchmal etwas herausfordernd und sogar widerspenstig, abwechselnd urkomisch-halluzinativ-absurd und schließlich auch bewegend wegen seiner poetischen Herangehensweise und dem Gefühl des Altersendes, das es durchdringt. Es ist eine trügerisch glatte Lektüre, aber gleichzeitig ein Roman, der unglaublich reich und vielschichtig ist, von unfassbarer Schönheit, der in Zeiten der Zerrüttung bis zu einem gewissen Grad Trost spendet. Dies ist sicherlich einer, über den man nachdenken sollte. Ich freue mich darauf, die nächsten Teile zu lesen.

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Herbst

Von: Bearnerdette

27.05.2020

Herbst von Ali Smith habe ich im Rahmen einer Leserunde mit einigen anderen Bloggern gelesen. Was soll ich sagen, ich bin schwer begeistert von diesem zeitgenössischen Roman, der so viel in sich vereint. Aber zunächst zur Story: Elisabeth besucht Mr Gluck im Altersheim. Der inzwischen über 100 Jahre alte Herr war früher ihr Nachbar und wurde ein guter Freund, doch dann riss der Kontakt ab. Jetzt schläft er die meiste Zeit, während die Mitt-Dreißigerin Elisabeth an seinem Bett sitzt und liest. Als Leser wechseln wir zwischen Vergangenheit und Gegenwart, erleben mit wie sich die Freundschaft zwischen den beiden entwickelte und sehen, wie es Eilsabeth heute geht. Der Roman streift viele interessante Themen, behandelt den Brexit, das gegenwärtige politische Kima in England, erzählt aber auch die faszinierende Geschichte der Pop Art Künstlerin Pauline Boty. Mit einer kunstfertigen Leichtigkeit taucht Smith in diese Themen ein, streift sie oder vertieft sich, bringt aber in jedem Fall die Stimmung der Figuren rüber. Ein Buch mit Tiefgang, was sich aber weder schwermütig noch schwerfällig liest. Smiths Schreibstil verleiht dem Buch Leichtigkeit und Poesie. Herbst ist der erste Teil eines Vierjahreszeiten Quartetts. Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Teil. Das Buch ist bei Luchterhand erschienen.

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That’s the thing about things. They fall apart, always have, always will, it’s in their nature. Herbst ist der erste Band des Jahreszeiten-Quartetts der britischen Autorin Ali Smith. Im Herbst 2016 ist Daniel ein Jahrhundert alt. Elisabeth, Anfang 30, kennt ihn von früher, der Nachbar hat sie als Kind mit der Kunst bekannt gemacht. Jetzt besucht sie ihn im Altersheim, liest ihm Bücher vor und fragt sich, was die Zukunft bringen mag. Denn England hat einen historischen Sommer hinter sich, die Nation ist gespalten, Angst macht sich breit. Der erste Roman aus Ali Smiths Jahreszeitenquartett erzählt von einer Welt, die immer abgeschotteter und exklusiver wird, über das Wesen von Reichtum und Wert, über die Bedeutung der Ernte. Und er erzählt vom Altern, von der Zeit und von der Liebe. Von uns. Mit ihrem einzigartigen und humorvollen Schreibstil, triefend vor politisch- und gesellschaftskritischer Aussagen, thematisiert Ali Smith die Auswirkungen des Brexit auf der britischen Halbinsel, ohne ihn jemals namentlich zu erwähnen. Doch mag er noch so bedeutungsvoll sein, spielt er nur eine Nebenrolle in der emotionalen Beziehung von Daniel Gluck und Elisabeth. Der Aufbau der Geschichte ist fantastisch konstruiert, so wechselt der Erzählrhythmus ständig zwischen der Gegenwart, der Vergangenheit und den von Ovids Metamorphosen inspirierten Traumgeschichten sowie den Ursprüngen der Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty. Obgleich die Stränge unwillkürlich erzählt zu sein scheinen, haben sie doch alle einen gemeinsamen Ursprung, den der Leser ergründen soll. Das Buch hat mich aufgrund seines genialen Schreibstils und der tragisch-emotionalen Beziehungsstränge beeindruckt und bewegt. Wahrlich keine leichte Kost, lohnt es sich aber, Zeit für den Inhalt und die Geschichte zu nehmen. Vielen Dank an den Luchterhand-Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Der Luchterhand Verlag schafft es langsam aber sicher, sich in mein Herz zu stehlen. Fast alle Bücher, die ich in letzter Zeit aus diesem Verlag gelesen habe, waren entweder ein Volltreffer oder mindestens 4-Sterne wert. Der Schreibstil der britischen Autorin Ali Smith ist einzigartig und originell. Herbst ist das erste Buch aus ihrem „Jahreszeitenquartett“ und ich kann es kaum erwarte, drei weitere Bücher dieser Art zu lesen. Ein Thema überschattet die Handlung des Buches: Der Brexit. Namentlich nie erwähnt, aber seine Folgen sind klar erkennbar. Das was er mit der Insel macht, wirkt hier deutlich dramatischer und regt so zum denken an. Neben den tollen politischen und geselschaftskritischen Aussagen kann „Herbst“ aber auch mit einer sehr emotionalen Geschichte überzeugen. Die Beziehung der Protagonistin zu Daniel ist zauberhaft und berührend. Das Verhältnis von Elisabeth zu ihrer Mutter ist da ganz anders, aber trotzdem sehr faszinierend. Die Beziehungsgeflechte waren hier ein echtes Highlight. Aber auch inhaltlich konnte mich dieser Roman mit seiner Komplexität und seinem Sprachgefühl überzeugen. Was mir ganz besonders gefallen hat wie die Liebeserklärung der Protagonisten an Bücher und das Lesen. Denn diese spielen in der Geschichte eine große Rolle. Gleichzeitig wird so clever eine Apell an das eigenständige und unabhängige Denken vermittelt. Ich kann euch diesen Reihenauftakt von Ali Smith nur empfehlen. 5/5 Sterne

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Überall wird der gerade auf Deutsch erschienene Roman „Herbst“ von Ali Smith als der „erste Brexit-Roman“ gefeiert. Und tatsächlich begann die schottische Autorin 2016 kurz vor dem Referendum mit der Niederschrift und in der Absicht, einen ganz zeitnahen Text zu verfassen. „Autumn“ erschien dann auch bereits im selben Jahr und platzierte sich 2017 auf der Shortlist zum Man Booker Prize. Ein wenig von dieser Aktualität und Dringlichkeit ging durch die drei Jahre, die die Übersetzung ins Deutsche nun dauerte, verloren. Das schadet aber nicht sehr, denn die Gedanken zu den politischen Veränderungen in Großbritannien, die Hinwendung zu mehr Egoismus, sozialer Kälte, zum Errichten von Grenzen jedweder Art und zum raueren Klima, das seitdem in der britischen Gesellschaft herrscht, bilden nur einen Aspekt des komplexen Romans. Auch wenn dieser sehr stark und leidenschaftlich ausgeführt wird. „Ich habe die Nachrichten satt. Ich habe es satt, wie manches künstlich zu etwas Spektakulärem aufgebläht wird, das es nicht ist, und anderes, wirklich empörende Dinge, grob vereinfacht wird. Ich habe die Giftigkeit satt, den Zorn, die Niedertracht, den Egoismus. Und am meisten habe ich satt, dass wir nichts unternehmen, damit das aufhört.“ Geplant und angelegt hat Ali Smith „Herbst“ als den ersten Text eines Jahreszeiten-Quartetts und im Original sind bereits „Winter“ und „Spring“ erschienen, „Summer“ für 2020 angekündigt. „Herbst“ ist, wenig verwunderlich, ein Roman des Abschieds, der leisen Trauer, des Alters, aber auch einer der Verwandlungen – Ovids „Metamorphosen“ spielen nicht zufällig eine Rolle – und der Hoffnung. Er ist bei aller Zugänglichkeit ein hoch kunstvoller, vielgestaltiger und auch experimenteller Text. Es beginnt mit einer jener traumartigen Episoden, die immer wieder auftauchen. Hier wird ein „alter, alter Mann“ an ein Ufer angespült, begegnet einem Reigen tanzender Mädchen, während tote Menschen am Strand liegen und Urlauber sich sonnen, fühlt neue Lebenskraft in sich aufsteigen und verwandelt sich schließlich in einen Baum. Diese Traumsequenzen erweisen sich bald als Bewusstseinsströme eines sterbenden, 101 Jahre alten Mannes, Daniel Gluck. An seinem Krankenhausbett sitzt viele Stunden eine junge Frau, liest, liest ihm vor, spricht mit dem Bewusstlosen, in einem tiefen, langen Schlaf Gefangenen. Als zehnjähriges Mädchen wurde Elisabeth Demand die Nachbarin von Daniel Gluck. Die alleinerziehende und nicht sehr fürsorgliche Mutter hatte wenig Zeit und Geduld mit ihrer Tochter. Damals gab ihr der bereits hochbetagte, aber noch erstaunlich rege Nachbar Halt und führte sie ins eigenständige Denken und in die Kunst und Literatur ein. „Was liest du gerade?“ war eine ihrer Begrüßungsfloskeln. Und auch „Herbst“ ist voller Referenzen an Bücher, Autoren, bildende Künstler. Ovids „Metamorphosen“ liest Elisabeth am Krankenbett. Und wie die Natur sich im Herbst wandelt, macht auch Daniel in seinen Träumen oft eine Verwandlung durch. Meist allerdings in eine entgegengesetzte Richtung, hin zu vergangener Jugend. So wird er beispielsweise zu einem ergrünenden Baum, in den er sich eingeschlossen fühlt. Was wieder auf eine andere Bezugsgröße hinweist, auf Shakespeare. Der Luftgeist und Gestaltwandler Ariel ist in dessen Stück „Der Sturm“ ebenfalls zu Beginn in einem Baum eingeschlossen, aus dem ihn der Zauberer Prospero befreit. Eines der dem „Herbst“ von Ali Smith vorangestellten Mottos stammt aus „Der Sturm“. Der Sturm als Herbstmotiv. Und William Shakespeares Märchen- und Zauberdramen als Inspiration für die Traumsequenzen im Roman. Ein drittes literarisches Werk, auf das Smith Bezug nimmt, ist Charles Dickens „Eine Geschichte aus zwei Städten“. Von diesem während der französischen Revolution in Paris und London spielenden Roman kann man einen Brückenschlag zu den „revolutionären“ Veränderungen in Großbritannien herstellen, aus ihm stammt auch der (leicht veränderte) Anfangssatz: „Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten.“ Mit der kritischen Stellungnahme zum Brexit und den verschiedenen literarischen Referenzen ist es aber noch nicht genug. Durch einen persönlichen Bezug – Daniel, der Liedtexter war einst in sie verliebt – erzählt Ali Smith noch von der britischen Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty und ihrem traurigen Schicksal. Gleichzeitig thematisiert sie über eines der Werke Botys den Skandal um Christine Keeler. Diese war ein britisches Model und unterhielt 1963 gleichzeitig eine Affäre mit dem britischen Kriegsminister John Profumo und dem sowjetischen Marineattaché Jewgeni Iwanow, was schließlich zum Sturz der britischen Regierung führte. Reichlich Stoff für einen nicht allzu umfangreichen Roman. Dazu kommt der Wechsel der Zeitebenen zwischen Erzählgegenwart und Erinnerungen und dem nebligen inneren Erleben Daniels. Es erstaunt und zeugt von großer Könnerschaft, dass sich das Ganze so problemlos und mit Genuss lesen lässt. Letztlich entscheidet die Leserin, welchen Fährten sie folgen mag. Brexit-Roman oder Meta-Erzählung? Politisches Statement gegen das Errichten neuer Grenzen und für die Vielgestaltigkeit des Lebens oder zarte, poetische Erzählung über das Abschiednehmen von einem geliebten Menschen? Oder eben alles zusammen. Ali Smiths Erzählen ist sowohl politisch als auch hochpoetisch. Sie liebt Sprache und Wortspiele, und das ist auch in der Übersetzung von Silvia Morawetz noch deutlich zu spüren. „Sprache ist wie Mohnblumen. Sie nimmt etwas und wühlt die Erde drum herum auf, und schon kommen schlafende Wörter zum Vorschein und werden, leuchtend rot und frisch, überallhin verweht.“ Das Ende ist geradezu hoffnungsvoll. Aber da schrieb man ja auch noch das Jahr 2016. Vieles sieht heute düsterer aus als damals. Mit großer Spannung darf man die Folgebände erwarten, die ja eigentlich ins Lichte führen müssten, in den Frühling, den Sommer. „Die Bäume zeigen ihre Wuchsformen her. Ein feiner Brandgeruch liegt in der Luft. Alle Seelen streunen und marodieren. Aber es gibt Rosen, noch gibt es Rosen. Trotz Feuchte und Kälte ist an einem Busch, der bereits abgeblüht aussieht, eine Rose weit geöffnet, noch. Sieh dir die Farbe an!“

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