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Rezension zu
Die Flügel meines schweren Herzens

Liebe, Klage und Selbstbestimmung

Von: Timo Brandt
23.05.2018

Wir beide lebten wie Zweige eines Baums und wuchsen so, wie Bäume am schönsten wachsen, bis es hieß, die Zweige seien lang geworden, schön schlank, und sie trügen ansehnliche Früchte. Die Unberechenbarkeit der Zeit hat einen von uns vernichtet, niemanden und nichts verschont sie. Wir waren wie Sterne der Nacht, und zwischen uns ein Mond, der die Schwärze vertrieb, denn er war der Mond zwischen uns. (Safia Bint Khalid Al-Bahilia, unbekannt) Diese Sammlung von aus dem Arabischen übersetzten Gedichten, die ausschließlich von Frauen verfasst wurden, erschien erstmalig 2008 und wurde für diese Neuauflage um einige wenige Gedichte von jüngeren Autorinnen ergänzt. Herausgegeben wird sie von Khalid Al-Maaly, der auch andere umfangreiche Anthologien mit deutschen Übersetzungen von arabischer Poesie herausgegeben hat (z.B. im Verlag Hans Schiler) und ein Lexikon arabischer Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Texte stammen aus den Zeiträumen 500-1200 und 1900-heute (n. Chr.). Diese Lücke von 700 Jahren hat mich zunächst stutzig gemacht, im Nachwort fand ich dann eine Erklärung von Al-Maaly: anscheinend gab es eine Zäsur in der arabischen Geschichte als die Mongolen im 13. Jahrhundert Bagdad einnahmen. In den folgenden Jahrhunderten der Fremdherrschaft (durch die Eingliederung vieler arabischer Länder in die Reiche der Mongolen, Osmanen und anderer Eroberer) ist, so das Nachwort, die arabische Dichtung über längere Zeit hinweg in regionale Dialektausprägungen zerfallen. Der Überraschungen voll ist die Zeit, sie ließ einen Schwanz uns zurück, der Kopf jedoch ist abgetrennt. Sie ließ uns alles Unbekannte zurück, suchte uns heim mit dem Tod der träumenden, die Leichen und Gräber sind. (Al-Khansa, 575-646) Der Band beginnt mit Werken aus der vorislamischen Zeit. Die meisten aus dieser Epoche stammenden Gedichte sind Klagelieder, meist für in Kriegen gefallene Söhne, Brüder, Väter, und Gedichte über unerwiderte oder nicht mögliche Liebe. Hinten im Band sind, in alphabetischer Reihenfolgen, alle Autorinnen mit Kurzbiographien vertreten, in denen meist auch die Umstände der abgedruckten Gedichte geschildert werden. Wenn die Dichtungen die Zeit Mohammeds und der islamischen Ausbreitung betreten, gesellen sich zu den Klageliedern und Liebesgedichten auch erste selbstbewusste Verse und kritischere Perspektiven, gerade in Bezug auf die von Männern eingerichtete Welt. Ich wunderte mich über mein Herz, wie es sich zu euch neigt, trotz des großen Leids und seiner Ungeduld. (Arib Al-Mamunia, 797-890) Viele Autorinnen dieser Zeit leben in oder haben Umgang mit den neuen Herrscherhäusern – als Sklavinnen, in der Blütezeit nach den ersten Islamischen Eroberungen aber auch als Hofdichterinnen oder Wissenschaftlerinnen. Zahlreiche Dichtungen stammen (zumindest in dieser Anthologie) aus den Gebieten im Süden von Spanien, Andalusien und Córdoba. Ich bin eine Löwin, doch geb‘ ich mich nicht zufrieden damit, mein Leben lang jemandes Ruhelager zu sein. (Aisha Bint Ahmed Al-Qurtubia, ?-1009, Kalligrafin in Córdoba) Ich sehe ihre an uns verübten Taten wie die am Menschen verübten Taten des Teufels. (Khadija Bint Ahmed Bin Kulthum Al-Muaferi, 11. Jahrhundert, Andalusien) Dann folgt, wie bereits angemerkt, ein Cut und wir befinden uns mitten im 20. Jahrhundert. Die Vertreterinnen dieser modernen Form von arabischer Poesie kommen aus den unterschiedlichsten Ländern (Bahrain, Iran, Irak, VAE, Libyen, Syrien, Jemen) und können öfters Aufenthalte in den USA oder in Europa vorweisen oder haben an vielen unterschiedlichen Orten im arabischen Sprachraum studiert, gelebt oder gearbeitet. Ich werde meine Seele lieben, im Beben ihrer Schatten leben Jahrhunderte, erfüllt von den Farben der Fantasie. Dort in der Seele Windungen hab‘ ich die Schönheit gefunden […] Und dort – wie viele Farben sanken auf den Grund der Kelche der Erinnerungen! Wie viele Geschichten schliefen und verbargen ihr Geheimnis hinter dem Fühlen. Wie viele blitzende Träume von Liebe, die eine Weile lebte und dann starb. Wie viele Melodien eines Sommers, als der Abend drückend und schläfrig war in manchen Dörfern. (Nazik Al-Mala’ika, 1923-2007) In diesen modernen Dichtungen sind viele Entwürfe eines komplexen weiblichen Selbstverständnisses zu finden. Nicht einfach nur Erwiderungen, Klarstellungen, kurze Gesänge sind diese Texte – wie es ihre mittelalterlichen Verwandten noch oft waren – sondern auf sich selbst zurückgeworfene, ausbrechende oder zögerlich das Eigene umfassend erforschende Erschütterungen und Bewegungen, die oft versuchen Brüche zu vollziehen oder Wurzeln auszugraben, zu greifen. Ich, die ich der Keim der Zusammenstöße bin, der Abkömmling der Skandale, der Verlockung des Stahls erlegen, gefangen vom Verlangen der Seele und eine Prinzessin über den schwankenden Weiten, wie Silber: Ich bin beharrlich in meinen Erregungen und eine Nelke in der Gelöstheit der Befriedigung! (Hamda Khamis, *1948) – Wie viel Zeit bleibt mir noch, um einige Wörter wieder einzusammeln, damit ich zu einem kleinen Etwas im Herzen der Dinge werde? (Sabah Al-Kharrat-Zwein, 1955-2014) Der arabische Frühling und die anderen Kriege im Nahen Osten und Nordafrika und die großen Fluchtbewegungen der letzten Jahre haben natürlich ihre Spuren in den Gedichten der jüngsten Dichterinnengeneration hinterlassen. Allerdings kommt derlei wirklich nur in den letzten Gedichten dieser Sammlung zum Tragen. Der Tag beginnt Mit ganz normalen Dingen Die Fensterscheiben erzittern von den detonierenden Bomben […] Die Welt verändert sich jeden Tag Und hier An diesem Fleck auf dem Globus Bau’n wir intime Beziehungen zur Traurigkeit auf Unser täglicher Anteil an den Nachrichten Szene für Szene: Blinde Geschosse […] In ein paar Jahren Werden wir vergessene Wesen in einem Dokumentarfilm sein (Kholoud Elfallah, *1973, Libyen) Ich bin die Tochter jenes Schädels Der an der Grenze gefunden wurde Ich bin die Mutter jenes kleinen Mädchens Das seinen Körper in den Flüchtlingscamps verkaufen muss (Mariam Al-Attar, *1987, Iran) Es ist erfreulich, dass eine so umfangreiche Anthologie mit weiblichen Stimmen der arabischen Dichtung existiert und sogar wieder aufgelegt wurde. Manches Gedicht besticht mehr als Dokument denn als lyrisches Werk, aber es finden sich dennoch zahllose starke Verse und viel Schönes, viel Berührendes, viel Wichtiges.

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