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Rezension zu
Das Päckchen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Die Odyssee einer mittelalterlichen Handschrift

Von: Barbara62
17.12.2017

Wieder einmal lässt Franz Hohler, 1943 geboren und inzwischen einer der bedeutendsten Schweizer Autoren, diesen Roman an einem Bahnhof beginnen, dem Berner Hauptbahnhof. Dort entscheidet sich der Bibliothekar der Züricher Zentralbibliothek, Ernst Stricker, der eigentlich weder zu spontanen Handlungen noch gar zu Abenteuern neigt, den klingelnden öffentlichen Fernsprecher abzunehmen. Auf den Hilferuf einer nahezu blinden alten Frau hin, die ihn mit ihrem Neffen verwechselt, eilt er zu ihr in die Gerechtigkeitsgasse und nimmt ein Päckchen ihres 1980 in den Bergen verschollenen Mannes entgegen, das sie in Sicherheit wissen möchte. Es ist, wie Ernst sofort vermutet hat, ein Buch, aber zu seinem maßlosen Erstaunen nicht irgendeines, sondern eine unschätzbar kostbare mittelalterliche Handschrift aus Pergament, der Abrogans, ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, das älteste Buch in deutscher Sprache, von dem sonst nur drei Abschriften in Bibliotheken in Karlsruhe, Paris und St. Gallen existieren. Handelt es sich um eine weitere Abschrift oder gar um das Original? Das Hören dieses Romans hat mir aus verschiedensten Gründen großes Vergnügen bereitet, auch wenn die immer wieder eingebauten Zufälle fast schon überirdischer Natur zu sein scheinen. Zum einen hat es mich fasziniert, die Veränderung meines Kollegen Ernst zu verfolgen, der von einer Stunde zur anderen vom biederen, grundehrlichen, fast langweiligen Musterbibliothekar zum routinierten Lügner und risikofreudigen Abenteurer wird, indem er das Missverständnis nicht aufklärt, seiner Frau Jacqueline, seinen Kollegen, der Polizei und allen Beteiligten immer neue, spontan erdachte Flunkereien serviert und unkalkulierbare Risiken eingeht. Wie selbstverständlich und nahezu ohne Gewissensbisse verstrickt Ernst sich immer tiefer in das Geschehen. Dieser Teil des Romans gleicht einem Detektivroman, daneben gewährt Hohler Einblicke in eine Ehe und in die moderne Bibliothekswelt, beides oftmals mit einem Augenzwinkern. Zum zweiten hat mir die gekonnte Verstrickung von zwei Haupt- und einer Nebenzeitebene gut gefallen. Erste Haupthandlung ist natürlich die des Ernst Stricker, nahezu gleichberechtigt jedoch ist die des jugendlichen Mönchs und Skriptors Haimo, der das Original zwischen 770 und 780 im Benediktinerkloster Weltenburg nach Vorlagen seines Abts geschrieben hat und dann von diesem über die Klöster Wessobrunn, St. Gallen und Bobbio nach Monte Cassino entsandt wurde, um die Handschrift zur Abschrift anzubieten und gleichzeitig dortige Werke zu kopieren, eine im Mittelalter übliche Form der Verbreitung von Schriften. Seine Geschichte und die seiner ungeheuerlichen Verbindung mit einer Frau, die ihn auf der Reise zu Fuß mit einem Esel begleitete, ist eine mittelalterliche Abenteuererzählung, die manchmal an Umberto Eco denken lässt. Ein weiterer, kleinerer Erzählstrang enthält eine Kriegsgeschichte aus dem Italienfeldzug der Wehrmacht, die erklärt, wie der Abrogans letztlich in die Küchenschublade der alten Frau gelangte. Last but not least hat mich als Bibliothekarin natürlich das wunderbare Happy End für die Handschrift erfreut, das ich mir nicht schöner hätte wünschen können. Gert Heidenreich liest den Roman ungekürzt auf fünf CDs in 318 Minuten sehr professionell und unterhaltsam, nuancenreich und der jeweiligen Zeitebene angepasst, und bringt sowohl Hohlers Naturbeschreibungen als auch seinen immer wieder aufblitzenden Humor wunderbar zur Geltung.

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