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Rezension zu
Marschmusik

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Tief im Westen

Von: daslesendesatzzeichen
11.09.2017

… wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser als man glaubt. (Herbert Grönemeyer) Wer den Pott kennt, weiß, wie wahr diese Aussage ist. Eine Region, die in kaum einer Reiseplanung jemals auftaucht, die es aber wert wäre, besucht zu werden. Bochum? Essen? Mülheim an der Ruhr? Duisburg? Hat man alles schon mal gehört. Aber dort gewesen? Mhhh … Mir ging es nicht anders. Als wir vor einiger Zeit beruflich bedingt nach Essen ziehen mussten, dachte ich erst mal: Bergbau, grau, staubig, ach du großer Gott! Im Nachgang fiel mir dann immerhin noch die Nähe zu Bochum (Herbert!!) ein – das stimmte mich etwas froher. Aber ansonsten erwartete ich vor allem: nichts. Doch kaum angekommen, begannen wir, das Ruhrgebiet zu erforschen, schauten uns viel an, entdeckten, wie unglaublich grün und schön es dort sein kann, wie innovativ man dort ist (Zeche Zollverein, Gasometer Oberhausen, Museum Folkwang, Radschnellweg RS1 auf alten Bahntrassen – um nur ein paar tolle Sachen zu nennen) und wie aufgeschlossen. Und vor allem ehrlich. Geradeaus, nicht verschnörkelt, nicht raffiniert. Gepaart mit einer Bodenständigkeit, die man manch anderer Region nur wünschen kann … Als wir nach drei Jahren die Möglichkeit hatten, wieder in die alte Heimat Hamburg zurückzukehren, haben wir sie zwar ergriffen, es war aber keine Flucht. Wir tragen seither ganz sentimental ein Stück Ruhrpott in unserem Herzen. Alles, was über die Ecke berichtet wird, geht uns an, lässt uns nicht kalt. Man kann sein Herz an den Pott verlieren, keine Frage. Er hat das Zeug zum Kult. Es müssten nur mehr Leute wissen! Kein Wunder also, dass ich interessiert aufhorchte, als ich von „Marschmusik“ hörte. Ein Buch über einen jungen Protagonisten, der längst aus dem Bergbaumilieu seiner Eltern ausgebrochen ist, der Beklemmungen bekommt, jedes Mal, wenn er wieder zurückkehrt in sein altes Zuhause – der aber auch nicht aus seiner Haut kann, der im Herzen genauso spießig wie Papa früher ist, auch wenn er nun in der Großstadt lebt und vor dem „Mief“ der Provinz geflohen ist. Dieser namenlose Erzähler entführt uns Leser in die „guten alten Zeiten“, als im Revier noch malocht wurde, als die Zechen noch nicht geschlossen waren, als der Pulsschlag noch aus Stahl war (Herbert Grönemeyer). Mehrere Erzählstränge jongliert Autor Martin Becker parallel, letztendlich laufen sie alle in der Gegenwart zusammen. Da gibt es den mit dem „Sauhund“ (ein Kompliment!) Hartmann, der beste Kumpel des verstorbenen Vaters, der den jungen Protagonisten eines Tages unvermutet anruft und um ein Treffen bittet. Dann sind da die Erzählstränge mit den Rückblicken auf die Kindheit der Eltern, wie sie aufwuchsen und einander kennenlernten. Ein Strang widmet sich der eigenen Vergangenheit, der Aufarbeitung dessen, was der Protagonist als (Arbeiter-)Kind erlebte. Und natürlich gibt es den Gegenwartsbereich – der Erzählstrang, in den alle anderen immer wieder münden. Das Rad wird nicht neu erfunden bei dieser Geschichte. Ein Coming-of-Age-Roman, solide, interessant, vielleicht ein wenig beliebig, manchmal auch banal. Aber so ist das Leben ja auch. Warum sollte Becker es also schönen oder künstlich aufplustern? Sein Protagonist ist Durchschnitt, seine Lebensgeschichte auch – wobei sein Kindheitstraum (-wahn?) vom Leben als Starposaunist schon bemerkenswert abgedreht ist. Ein kleiner Steppke, am Rande des Ruhrgebiets, der beim Lauschen der Marschmusik des örtlichen Blasmusikverbands eine Initialzündung erlebt und hernach nur noch Posaune spielen will – mit dem klaren Ziel, ein Star auf allen großen Bühnen dieser Welt zu werden. So hat also doch jedes Leben seine Skurrilität, sein absurdes Etwas … Wer mag, kann bei der Lektüre einiges über die Welt unter Tage lernen, denn die Hauptperson fährt sogar in ein Bergwerk ein, um wenigstens einmal die im Untergehen begriffene Welt des eigenen Vaters kennenzulernen. Das ist eindrücklich, rührend und anstrengend – aber vor allem wird ihm dabei am Ende klar, dass er dort bei den Kumpels doch sehr fremd ist. Er ist ein Besucher, aber keiner von ihnen. Ein bisschen so verhält es sich ja auch mit dem Pott: Wer nicht von dort kommt, wird sich immer ein bisschen fremd fühlen, wird nicht bis ins Letzte nachvollziehen können, woher diese „Stehaufmännchen-Mentalität“ kommt, woher der leise Stolz, das Selbstverständnis. Man bleibt ein Besucher. Wenn man längere Zeit dort war, verändert es sich ein wenig, man ahnt, man versteht – und doch wird man, ohne einen Steiger in der Familie zu haben, nie einer von ihnen sein. Also ran an das Buch, ein bisschen Ruhrpott-Feeling tanken, ein bisschen Hintergrundwissen aufsaugen und dann vor allem ab in den tiefen Westen. Selbst erforschen, selbst erkunden! Glück auf!

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