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Rezension zu
Charakter

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Was auf Dauer zählt

Von: Michael Lehmann-Pape
16.11.2015

Nicht umsonst häufen sich die Werke zu und die Diskussion über Themen der Werte, der Moral, der „richtigen“ Lebenshaltung, der sinnvollen Ziele für ein individuelles Leben. Und für eine, daraus erwachsende, soziokulturelle Ausrichtung einer Gesellschaft. Die ungebremste Macht der Finanzmärkte und das Diktat des Gewinns und „gewinnen Wollens (oder Müssens)“, Skandale auf höchsten Konzernebenen, breit angelegte Betrug wie bei VW, die Erschütterung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes durch Herausforderungen von außen und Innen in einer sich hoch individualisierenden Welt, in der allgemeine Verbindlichkeiten kaum mehr Konsens finden, ist die Frage nach allgemeinen Werten und einer sinnvollen Entfaltung der eigenen Persönlichkeit naheliegend. Angesichts eines scheinbar klaren „Sieges“ des „erfolgsorientierten und zielgerichteten Charakters“, der in der modernen Welt vor allem das eine Ziel verfolgt, sich selbst in allen Belangen fit und für den Erfolg gewappnet zu generieren, kommt Brooks zu ganz anderen, fast entgegengesetzten Ergebnissen dessen, was einen „erfolgreichen“, sprich „Sinn-findenden“ Charakter wirklich ausmacht. Schon die zu Beginn gesetzte Unterscheidung zwischen „Lebenslauf-Tugenden“ und „Trauerrede-Tugenden“ führt den Leser mit einem kräftigen Bild auch emotional mitten hinein in das, was Brooks wichtig ist. In die Spannung, dass einerseits in der modernen Welt Menschen sich deutlich mehr Gedanken um die „Lebenslauf-Tugenden“ machen (was man vorweisen kann, fassbar und als sichtbarem Erfolg), aber andererseits, bei näherem Überlegen, den „Trauerrede-Tugenden“ einen wesentlich höheren Stellenwert zumessen würden (wie man war, was für ein Wesen, eine Person man im tieferen Inneren gewesen ist). „Unser Bildungssystem (und die Ausrichtung auf Erfolg und materielle Güter) fördert Lebenslauf-Tugenden zweifellos deutlich stärker als Trauerrede-Tugenden“. Und so tritt das, was dem Menschen eigentlich wichtig ist, was (vor allem) ihn ausmacht, immer mehr in den Hintergrund. Unter Verlust von Identität hin zu einer Selbstdefinition als „Funktion“ und damit auch zu einer zunehmenden allgemeine Vereinzelung und Verlust des „inneren Klebstoffes“ einer sozialen Gemeinschaft. „Die meisten von uns haben eine klare Strategie für den beruflichen Erfolg, nicht aber für die Entwicklung eines tiefgründigen Charakters“. Eine Differenz, die Brooks bereits in den ersten beiden Büchern der Bibel zugrunde gelegt sieht. Der erste, strukturierte, klare und funktionale Schöpfungsbericht von Genesis 1,1 bis 2,3 (Adam I, der „Strukturierte“) und der zweite Schöpfungsbericht, die Paradiesgeschichte ab Genesis 2,4 mit „Adam II“, der sich verbindenden, hütenden, fragenden, neugierigen, auch scheiterndem Menschen. Ökonomie gegen Moral, klare Erfolgsstrategie gegen Erlebnisoffenheit samt inneren wie äußeren Risiken. Das eine fördert „die Sache“ bestmöglich, das andere die „innere Entfaltung“ mit Rückschlägen. Warum nun (und wie) eine Haltung nach „Adam II“ dem Menschen auch heute mehr Erfüllung zu geben vermag, wie dies ginge und wie sich dies auf das allgemeine Leben auswirken würde, all dies findet der Leser verständlich und fundiert argumentiert im Buch. Ohne die Spannung zu verneinen, unter der der Mensch steht, immer Anteile beider Ausrichtungen und Persönlichkeitsstrukturen in sich zu tragen. Wobei es letztlich nicht im Balance geht, sondern darum, der inneren Erfahrungswelt die Wege zu öffnen, ohne an sich selbst und der „erfolgsorientierten“ Seite ausschließlich zu reiben und zu scheitern. Ein Weg allerdings, der einige eindeutige Entscheidungen bedarf, wie Brooks vielfältig und mit prägnanten Beispielen vor Augen führt, Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.

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