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Rezension zu
Kind 44

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Guter Thriller mit kleinen Schwächen

Von: Devona
15.10.2015

„Kind 44“ ist ein Thriller, der vor dem stalinistisch geprägten gesellschaftlichem Hintergrund der Sowjetunion der 50er Jahre spielt, in dessen Kulisse die Taten eines Serienmörders eingebunden sind. Inspiration des Autors hierfür waren die Taten von Andrei Tschikatilo, dessen Mordserie an Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eigentlich in den Jahren 1978-1990 erfolgte. Das Gesamtkonzept des Buches vom „Jäger als Gejagtem“ oder auch „Krimi im Krimi“ fand ich interessant und ansprechend. Sprachlich befindet sich das Werk auf sehr einfachem Niveau, ist aber durchgängig spannend und liest sich gut weg. Nicht geeignet ist es aber definitiv für zarte Gemüter a la „Ich lese zwar super gerne Thriller, aber mir wird immer so schlecht dabei!“. Es gibt viel rohe, exzessive Gewalt, viel Blut, viel Ekel in sehr plakativer Form, das alles nicht nur, aber auch im Zusammenhang mit Kindern. Ich finde es immer gut, wenn ein Buch mich dahingehend inspiriert, mich unabhängig davon mit einem Thema zu befassen, so geschehen hier bereits im ersten Kapitel. Die Handlung dieses Kapitels spielt im Winter 1933 in der Ukraine und beschreibt, wie Menschen verhungern und sich zwei ausgemergelte Kinder auf die Jagd nach der wohl letzten, ebenso ausgemergelten Katze des Dorfes machen, um irgendetwas Essbares in die Finger zu bekommen. Am Rande wird erwähnt, dass Kannibalismus unter der Bevölkerung nicht ungewöhnlich war, was mich zum googlen veranlasste und letztendlich zum Holodomor führte, dessen Ausmaße und politischer Kontext mir bis dahin nicht bekannt waren. Das ist doch etwas völlig anderes als „ukrainische Hungersnöte in den Dreißigern“, die mir noch so vage im Gedächtnis waren. Ein weites Feld, was mich sicherhin auch noch beschäftigen wird. Weiter geht es dann in den 50ern. Bevor der Held „Leo“ (dessen Namen ich etwas unglücklich gewählt finde, hier hätte wohl „Lew“ als die russische Form von Leo eher gepasst), zu Beginn des Romans regimetreuer Staatsdiener, zum serienmörderjagenden Bessermenschen werden kann, braucht er eine Läuterung. Hiermit ist das erste Drittel des Buches befasst, zunächst wird das diktatorische Schreckensregime Stalins detailliert skizziert, in welches Leo eingebunden ist, für meine Begriffe allerdings zu überspitzt und zu einseitig. Ein mutiger, aber für mich nicht vollumfänglich gelungener Ansatz des Autors. Dem Leser drängt sich eine nur aus Negativklischees bestehende Gesellschaft auf, in der jeder Einzelne sich das eigene Überleben durch Denunziation des Nächsten (Nachbar, Kollege, Ehefrau, Eltern) „erkaufte“, jedwede Moral des Einzelnen war nicht mal im Ansatz vorhanden bzw. erkennbar, jedwedes menschliches Beziehungsgeflecht ist ausschließlich von Misstrauen, Hass und obrigkeitshörigem Denken durchdrungen. Die – laut Staatsdefinition der „nicht existierende Kriminalität im Sozialismus“ – offiziell nicht vorhandenen Straftaten wurden den praktischerweise an jeder Straßen- oder Feld-Ecke herumlungernden Säufern, Huren, Landstreichern in die Schuhe geschobenen, die dann ratz-fatz in den Folterkellern der Staatsgewalt exekutiert wurden. Unbestreitbar ist all dies Teil des Stalinismus gewesen: aber eben nur Teil. Andere gesellschaftliche Facetten fehlen komplett. Nach der Ermordung des nachweislich unschuldigen Brodsky durch Leos Arbeitgeber, den Geheimdienst, beginnt bei Leo ein Umdenkprozess. Als er sich weigert, die eigene Frau Raisa zu denunzieren (obwohl er ihr eigentlich selber nicht über den Weg traut) wird er degradiert und versetzt. Im neuen Domizil wird er zufällig mit der Akte eines Falles konfrontiert, der einem ihm bekannten (Klappentext!) ähnelt und er beginnt, Parallelen herzustellen und auf eigene Faust zu ermitteln. Er vermutet das, was nicht sein darf, offenkundig aber doch so ist: einen Serientäter. Von da an wird ein weiter Spannungsbogen zum Ende und somit auch dem Einführungskapitel aus den dreißiger Jahren gespannt. Viele Details sind für mich unbefriedigend. Der Logik des „Einführungsteiles“ konsequent folgend, hätte gerade einem hochrangigen Beamten des Geheimdienstes samt seiner Angehörigen ( Raisa wurde als Spionin verdächtigt – das war Hochverrat, auf den die Todesstrafe stand) die Liquidierung statt einer Versetzung gedroht. Überdies ist die die weitere Verfolgung von Leo durch die Figur Wassilij – ein im Amt konkurrierender Kollege, der die Denunziation Raisa initiiert hatte- überhaupt nicht verständlich. Mit der Versetzung Leos und dem eigenen Aufstieg in der Hierarchie der Behörde hätte Wassilijs persönlicher Hass auf Leo eigentlich befriedigt sein müssen. Stattdessen jagt er Leo weiter bis zum Showdown des Buches. Ebenso unverständlich ist das Verhalten der Mitgefangenen bei der Deportations-Szene im Zug zum Gulag: konsequenterweise dürfte es keine schweigende und somit Leos und Raisas Flucht unterstützende Masse geben. Diesen Menschen drohte durch die Nichtdenunziation von Leo und Raisa der Tod nach deren Flucht, warum also hätten sie schweigen sollen? Dergleichen Szenen gibt es mehrere, viele Details greifen da nicht wirklich gut ineinander. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Leo und Raisa, die zwar verheiratet sind, aber keine Vertrauensbasis oder irgendeine liebevolle Verbundenheit haben, ist ebenfalls Teil der Handlung. Sie begegnen sich nach der Verbannung das erste Mal auf Augenhöhe und bekommen somit die Chance, an ihrer Beziehung arbeiten können. Dieser Prozess ist mir zu sehr nach innen gerichtet, man erfährt zwar die Gedanken und Gefühle beider unabhängig voneinander, wirklich geredet wird aber kaum. Die plötzlich vorhandene Verbundenheit, Raisas bedingungslose Unterstützung Leos bei seinem Bestreben, den Mörder zu finden, erscheinen so etwas flach und unglaubwürdig. Ich würde „Kind 44“ durchschnittliche, gute 3 Sterne geben, lege aber einen drauf, weil das Buch mich wirklich dazu inspiriert hat, mich mit geschichtlichen Fakten der Stalinzeit und vor Allem dem Holodomor zu befassen. Eine Leseempfehlung gibt es für Leute, denen die Spannung wichtiger ist als der korrekt recherchierte Rahmen in den sie eingebunden ist und an Leser, die kleinere Logikbrüche nicht stören. Thriller-Spannung ist auf jeden Fall da, auch dieses Buch habe ich fast ohne Unterbrechung an einem freien Tag gelesen.

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