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Rezension zu
Dorfroman

"Dorfroman" von Christoph Peters

Von: Fraggle
28.10.2020

Fazit: Der Autor verlegt die Handlung seines Romans in die 70er Jahre des genauso beschaulichen wie fiktiven Dörfchens Hülkendonck am Niederrhein. Ich gestehe, bei dem Namen Hülkendonck immer ein bisschen an Fräulein Müller-Wachtendonk gedacht zu haben, die uns allen im Zusammenspiel mit Siggi Sorglos ab Anfang der 90er in vom Bundesumweltministerium in Auftrag gegebenen Zeichentrickfilmchen Dinge wie die Mülltrennung erklärte. Und tatsächlich liegt der echte Ort Wachtendonk nur ein paar Dutzend Kilometer von den Schauplätzen des Buches entfernt, aber ich schweife ab. Hülkendonck gehört zur Stadt Kleve, liegt aber unweit des Ortes Kalkar, wo ein Atomkraftwerk des Typs „Schneller Brüter“ gebaut werden soll. Die Älteren werden sich erinnern: Nach einer schon Ende der 60er beginnenden Planungsphase wurde mit dem Bau begonnen. Letztlich verschlang das Projekt ein Vielfaches der ursprünglich in Aussicht gestellten Kosten, ans Netz ging der Schnelle Brüter nach einem Regierungswechsel in NRW, dem Erstarken der Anti-Atomkraft-Bewegung und schließlich auch aufgrund von Störfällen wie in Harrisburg und insbesondere natürlich nach der Tschernobyl-Katatrophe, jedoch nie. Im Jahr 1991 wurde das endgültige Ende für das Projekt beschlossen. Heute ist aus dem geplanten AKW von einst ein Freizeitzentrum mit Kletterwand am Kühlturm entstanden … In diesem zeitlichen und geografischen Umfeld lässt der Autor seinen Protagonisten in den 70ern aufwachsen, und macht daraus einen Roman, der in so vielen Bereichen gut gelungen ist, dass ich ausnahmsweise kaum weiß, wo ich anfangen soll. Nun, vielleicht am Anfang. Denn zu Beginn schildert der Autor erst mal die Gegebenheiten im idyllischen Hülkendonck der 70er. Peters entwirft das Bild eines landwirtschaftlich geprägten Dorfes, in dem die Bauern das Sagen haben, beschreibt Hierarchien und Gemeinschaften, in denen es Hilfsarbeiter und insbesondere Zugezogene schwer haben, dazu zu gehören. Ein Dorf, dessen Bewohner zumeist tiefreligiös und erzkonservativ sind und denen eine intensive Obrigkeitshörigkeit inne zu sein scheint, unterwirft man sich doch gerne dem Urteil von Kirchenvorstand, Bischof oder Papst, Lokal-, Kommunal- oder Bundespolitiker, denn die werden ja schon wissen, was sie tun und außerdem ist gewählt eben gewählt, da kann man dann ja auch sowieso nichts mehr ändern. So oder ähnlich scheint die vorherrschende Denkweise der Bewohner Hülkendoncks zu sein. In diesem Umfeld sozialisiert, wundert es nicht, dass der junge Protagonist des Buches zunächst ähnlich tickt. Das Urteil der eigenen Eltern scheint ein unfehlbares zu sein, zudem führt der Junge regelmäßig religiöse Begründungen dafür an, warum er etwas gut oder nicht so gut findet. Erst mit den aufkommenden Plänen für das AKW, für das große Teile der zum kirchlichen Grundbesitz gehörende Flächen verkauft werden müssten, tauchen die Probleme auf, denn erstmals ist man im Dorfe uneins. Da sind auf der einen Seite beispielsweise die Bauern, die bislang davon profitierten, dass sie die der Kirchengemeinde gehörenden Flächen zu einem wesentlich geringeren Preis pachten konnten als das bei einem anderen Eigentümer des Grund und Bodens möglich wäre, und die daher aus rein wirtschaftlichen Gründen dagegen sind. Und auf der anderen Seite sind die, so wie der als Kirchenvorstand tätige Vater der Hauptfigur, die für den Verkauf der Flächen sind, weil Fortschritt eben sein muss, die entsprechenden Fachleute sicherlich schon wissen, was sie da tun und letztlich alles besser ist, als die Flächen im Endeffekt einfach enteignet zu bekommen. Und dann ist da noch der Gastwirt, der sich zu keiner Seite richtig bekennt, weil er Sorge davor hat, dass die Vertreter der jeweiligen Gegenseite dann nicht mehr seinen Gasthof betreten würden … Und spätestens nachdem eine Gruppe Atomkraftgegner ist Dorf zieht, ändert sich nicht nur die Stimmung im Dorf, sondern eben diese Änderung setzt auch beim Protagonisten ein. Er wird durch Kontakt mit den Gegnern politisiert, verliebt sich in eine der Protestlerinnen und beginnt, die Denkweisen der Eltern zu hinterfragen, in Zweifel zu ziehen und auf Konfrontationskurs zu gehen. Vor diesem Hintergrund ist „Dorfroman“ erst einmal eine Coming-of-Age-Geschichte. Aber das Buch ist eben nicht nur im Bezug auf seine Hauptfigur ein Entwicklungsroman, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung des ländlichen Raums in den letzten Jahrzehnten. Das literarische Bild, dass Peters diesbezüglich malt, deckt sich übrigens sehr mit meinen eigenen Erfahrungen, in denen in einem ähnlichen Zeitraum aus meinem beschaulichen heimatlichen Dörfchen mit nahezu 1.100 Einwohnern mit eigener Post- und Sparkassenfiliale, zwei Gaststätten, einer co op-Filiale und täglichem Zug von Rinderherden auf und von den Weiden quer durchs Dorf, ein Dorf geworden ist, in dem es all das nicht mehr gibt, dafür aber seit Anfang der 90er ein schon vor Jahren durch einen amerikanischen Konzern mit Milliardenumsatz aufgekauftes Großunternehmen mit 400 Mitarbeiten und einen Schweinemastbetrieb mit 3.000 Mastplätzen, und dessen Einwohnerzahl mittlerweile bei etwa 900 stagniert. Lediglich die im Buch geschilderte nahezu fundamentale Religiösität habe ich hier nicht so wahrnehmen können, aber vielleicht ist der südniedersächsiche Raum damals schon säkularisierter gewesen, als der des westlichen NRW, wer weiß …!? Wenn man den Blickwinkel weiter fasst, ist „Dorfroman“ in einem weiteren Punkt ein Entwicklungsroman, nämlich hinsichtlich der Entwicklungen in der damaligen Bundesrepublik und ihrer Bevölkerung, eben weg von einer obbrigkeitshörigen Generation, hin zu einer jungen, kritischen Generation, die Fragen an ihre Eltern- und Großelterngeneration hat. Und zwar berechtigte Fragen. Fragen, die leider teilweise bis heute unbeantwortet geblieben sind. Christoph Peters Erzählweise passt sich dabei dem geschilderten Umfeld an. Er hat eine über weite Strecken des Romans gemütliche Art zu erzählen, was ich im Übrigen ausnehmend positiv verstanden wissen möchte. Besonders erwähnenswert finde ich in stilistischer Hinsicht, wie gut es dem Autor gelingt, den beiden Versionen seines Protagonisten zwei völlig unterschiedliche und dem jeweiligen Alter angemessene Erzählstimmen zu geben. Gerade für die junge Ausgabe der Hauptfigur gilt, dass diese vollkommen überzeugend wirkt, sowohl in sprachlicher als auch intellektueller Hinsicht, der Junge wirkt an keiner Stelle des Buches klüger als er sein sollte. Nun ließe sich die Liste der positiven Aspekte noch beliebig verlängern, aber ein bisschen Eigenleistung kann von der potenziellen Leserschaft ja auch erwartet werden, deswegen belasse ich es bei der abließenden Feststellung, dass „Dorfroman“ ein 412 Seiten umfassendes, reines Lesevergnügen darstellte, und wenn Denis Scheck über den Roman urteilt: „Ein wunderbar humorvoll geschriebener Roman…für mich einer der lesenswertesten Romane in diesem Herbst.“ dann hat er damit vollumfänglich recht.

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