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Rezension zu
Nagel im Himmel

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

"Nagel im Himmel" von Patrick Hofmann

Von: Fraggle
29.05.2020

Hofmanns Protagonist Oliver Reuß hat es nicht immer leicht. Geboren im letzten Sommer der DDR wird er, als Resultat dessen, was man heute einen One-Night-Stand nennen würde, von seiner Mutter, die kein Interesse an ihm zu haben scheint, an seinen Vater abgegeben, dessen Interesse an dem Jungen aber auch nicht nennenswert höher ist. So lässt ihn sein Vater durchaus schon mal in der Wiege mehrere Stunden auf dem Balkon stehen und schreien, während er selbst in der Kneipe erst mal ein paar Bierchen zischt. Aufgezogen wird der junge Oliver daher in erster Linie von seiner Großmutter. Kein Wunder eigentlich, dass der junge Oliver auf diese Weise intensive Bindungsängste entwickelt, keinen Anschluss findet, lange Zeit auch keinen Anschluss finden will und lieber allein bleibt. So flüchtet er sich mit allem, was er hat, in die Mathematik, für die er ein außerordentliches Talent an den Tag legt, und die ihm augenscheinlich mit ihrer Logik den Halt und die Stabilität vermittelt, die er in seiner Familie nicht bekommen konnte. Und Patrick Hofmann schildert die Lebensgeschichte seines Protagonisten in mehrerer Hinsicht auf ziemlich großartige Weise. So wäre hier allen voran der Stil zu nennen. Dem Autor gelingt es, seine Figuren mit einer, je nach Umfeld, in dem sie leben, ganz charakteristischen Redeweise zu versehen. Insbesondere Olivers Mutter fällt durch einen sehr passenden, restringierten Code auf, der mich an irgendwas von Franz Xaver Croetz aus dem Deutsch-LK erinnert, ohne zu wissen, an was. Gleiches gilt in ähnlicher Form für seinen Vater. Allein durch die charakteristische Sprache einzelner Figuren hat man den Eindruck, es abseits der Geschehnisse rund um den Protagonisten phasenweise mit einer Milieu-Studie zu tun zu haben. Zwar sorgt all das, und ganz besonders die Verschriftlichung des sächsischen Dialektes, dafür, dass sich „Nagel im Himmel“ nicht immer einfach lesen lässt und man schon mit einer gewissen Aufmerksamkeit an die Sache herangehen sollte, aber gerade das machte für mich unter anderem den Reiz des Buches aus. Hofmanns Protagonist steht dem Stil des Buches in wenig nach. Allein durch seine Vorgeschichte, durch die Informationen darüber, wie Oliver aufwuchs, entwickelt sich bei der Leserschaft ein intensives Verständnis für Hofmanns Hauptfigur, verbunden mit dem Wunch, das alles für ihn gut werden möge. Die Nebenfiguren spielen nur eine vegleichsweise untergeordnete Rolle, was auch völlig in Ordnung ist, und eigentlich wünscht man sich, dass Oliver einigen davon auch mal gesagt hätte: „Es geht hier jetzt auch einmal um mich, und nicht um euch, verdammt.“ Hat er aber nicht. Und inhaltlich? Hierzu könnte ich unfassbar viel sagen, hätte alsbald vieles davon erzählt, was das Buch ausmacht, sowie seine komplette Handlung. Um dem entgegen zu wirken, sage ich mal: Vordergründig geht es um Mathematik. Und zwar um komplizierte, Mathematik, der Protagonist wendet sich nämlich im späteren Verlauf dem Beweis der Riemannschen Vermutung zu. Und diese Riemannsche Vermutung, so habe ich mir sagen lassen, gehört zu den sogenannten „Millenium-Problemen“, sieben ungelösten Fragen der Mathematik, die das Mathematische Institut der Uni Cambridge (Massachusetts) am Anfang dieses Jahrtausends veröffentlichte, und für die es Preisgelder in Höhe von jeweils einer Million Euro pro mathematischem Beweis auslobte. Meines Wissens wurde mit der Poincaré-Vermutung (was immer sie auch besagt) bislang erst eines dieser Probleme gelöst. Mithin scheint die Riemannsche Vermutung für Mathematiker so zu sein, als würde man als Bergsteiger den Mount Everest bezwingen wollen – auf einem Bein und ohne zu atmen. Nun kann ich nicht behaupten, auch nur irgendwas der mathematischen Bestandteile der Handlung begriffen zu haben. Und ich habe es versucht! Irgendwo war eine etwa sechsseitige Erläuterung dahingehend zu finden, was die Riemannsche Vermutung denn nun ist, und was sie besagt, und bis etwa zum ersten Drittel der ersten Seite fühlte ich mich dem Inhalt auch gewachsen … Segenswerterweise muss man davon allerdings auch nichts verstehen, um Vergnügen mit Hofmanns Roman zu haben, denn hintergründig, hinter der Mathematik, geht es um so viele andere Dinge. Hinter dieser Fassade ist „Nagel im Himmel“ beispielsweise eine Coming-Of-Age-Geschichte, eine Geschichte darüber, sich von den Dämonen seiner Vergangenheit zu lösen, sich nicht von Menschen, die einstmals einen negativen Einfluss auf uns ausübten den Lebensweg versauen zu lassen, davon, nicht alle Verantwortung für eigenes Scheitern diesen Menschen zuzuschustern, sondern sein eigenes Ding durchzuziehen, seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und zu sein und noch so viel mehr. Dabei mag der Eindruck entstehen, „Nagel im Himmel“ sei in erster Linie ein tragisches Buch, und phasensweise stimmt das auch. Aber es vermittelt halt immer wieder auch etwas Positives, Hoffnungsvolles. Und es hat vor allem diese eine Szene, in der sich Olivers trinkfeste Familie zu einem der unzähligen Feste versammelt, die sie so feiert und bei dem man diese zum Zeitpunkt der Handlung neumodischen Kaffeevollautomaten beklagt, die unfassbar lange brauchen, um für alle Anwesenden eine Tasse Kaffee zu machen, während man früher einfach eine große Kanne Kaffee aufgesetzt hätte und fertig. In der Folge beschäftigen sich die männlichen Familienmitglieder dann damit, Wetten darauf abzuschließen, wann der Kaffeevollautomat seinen Geist aufgibt und lassen ihn erbarmunglos eine Tasse Kaffee nach der anderen kochen, bis aus der Maschine „ein flehentliches Falsett“ (S. 91) ertönt. Ich hab schon lange beim Lesen keine Tränen mehr gelacht, hier allerdings schon. Man muss vielleicht dabei gewesen sein, aber wer das manchmal kindliche Verngügen von Männern kennt, Dinge kaputtzumachen oder aber etwas auseinanderzubauen, um es dann nie wieder zusammenzusetzen, dürfte an der Stelle Spaß haben. :-) Kurz: Hofmanns preisgekröntes Debüt „Die letzte Sau“ ging seinerzeit an mir vorbei, was allerdings sicherlich kein Dauerzustand mehr sein wird. Und auch seinem Nachfolge-Roman wünsche ich eine möglichst große Leserschaft.

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