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Rezension zu
Unorthodox

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Ein bewegendes, wichtiges Buch

Von: Buch-Lady
24.05.2020

Deborah Feldman spricht über religiösen Fundamentalismus. Sie wurde 1986 in Brooklyn, New York geboren und wuchs in der chassidischen, d.h. ultraorthodoxen jüdischen Satmar-Gemeinde im Stadtteil Williamsburg auf. Sie berichtet von ihrer Kindheit und Jugend in einer von Holocaust-Überlebenden gegründeten Sekte, in der jüdische Glaubens- und Lebensregeln in extremster Form gelebt werden, die vor dem 2. Weltkrieg in Europa selbst von ihren Gründern nicht befolgt worden waren. Hintergrund ist der Glaube, dass der Holocaust Gottes Bestrafung für die Assimilation der Juden in Europa gewesen sei. Gottes Zorn könne nur durch extremste Religiosität und das Verweilen in der Diaspora besänftigt werden. Deshalb lehnt die Gemeinschaft den Staat Israel ab. Erlösung könne nur durch Gott nach dem Tod erfolgen. Feldman beschreibt die bedrückende Enge des Alltags in völliger Abschottung von der Außenwelt. Es gibt weder Radio und Fernsehen noch Zeitungen und Internet. Alle Kinder besuchen religiöse Privatschulen im Bezirk. Einzig erlaubte Sprache ist Jiddisch, eine in Europa aussterbende Sprache. Für die Jungen und Männer ist der Mittelpunkt das Thora-Studium. Dieses ist den Mädchen und Frauen nicht erlaubt. Sie werden in religiösen Regeln und sittsamem Verhalten unterwiesen. Englisch wird beiden Geschlechtern nur rudimentär vermittelt. Das Lesen weltlicher Bücher ist selbst in Jiddisch verboten. Deborah ist eine Außenseiterin in dieser streng geregelten Welt, da sie bei ihren Großeltern aufwächst. Ihr Vater ist geistig behindert und alkoholabhängig, ihre Mutter hat die Gemeinschaft verlassen. Diesen Makel lässt man das Kind jederzeit spüren. Einzig die Großmutter behandelt sie liebevoll. Deborah ist zu intelligent, um die Regeln und extreme Unterdrückung der Frauen nicht zu hinterfragen. Sie findet Trost in Büchern, die sie heimlich in öffentlichen Bibliotheken liest oder zuhause unter ihrer Matratze versteckt. Mit 17 Jahren wird von der Familie eine Ehe für Deborah arrangiert. Ihren Mann hat sie zuvor ein Mal gesehen. So ist es üblich in der Satmarer Gemeinde. Aufgabe der Frau ist es, möglichst viele Kinder zu gebären, um die im Holocaust ermordeten 6 Millionen Juden zu ersetzen. Erst direkt vor der Eheschließung findet für beide Partner (getrennt) eine rudimentäre sexuelle Aufklärung statt. Diese Tatsache führt für Deborah zur Katastrophe, die von allen Verwandten beäugt und kommentiert wird. Privatheit gibt es nicht. Nachdem Deborah einen Sohn bekommen hat, fasst sie den Entschluss, die Gemeinschaft zu verlassen, um ihrer selbst willen, aber auch um ihrem Sohn die Gehirnwäsche zu ersparen, die sie selbst erlebt hat. Sie schildert ohne Pathos in sehr nachvollziehbarer Weise das Wachsen ihrer Zweifel und ihres Entschlusses, sowie das Reifen eines Plans, wie die Flucht unter Mitnahme ihres Sohnes gelingen kann. Sie weiß wenig über die Welt außerhalb ihres Stadtteils und muss den Umgang mit nichtjüdischen Menschen erst lernen, sich an das Tragen weltlicher Kleidung gewöhnen und mehr Bildung erlangen. Die Erzählung ihres Lebens liest sich wie ein spannender Roman, dessen Wahrheit umso erschütternder ist. Deborah Feldman ist eine beeindruckende, mutige Frau, die sich nicht nur getraut hat die Gemeinschaft zu verlassen, sondern das Erlebte auch noch öffentlich berichtet und anprangert. Die Gegenwehr der orthodoxen jüdischen Gemeinden fiel extrem aus nach der Veröffentlichung ihres Buches. Sie erhielt Bedrohungen. Feldman hat Unterdrückung und traumatisierende geistige Beeinflussung in einer Weise erlebt, die schwer vorstellbar ist in einem entwickelten Land des 20. Jahrhunderts. Es besteht kein Zweifel daran, dass ihre Schilderung authentisch und wahr ist. Schwer nachzuvollziehen ist für mich aber, wie eine aufgeklärte, demokratische Gesellschaft in den USA derartige Zustände unter dem Deckmantel der Religion hinnehmen kann. Nicht selten endet ein Ausstieg im Selbstmord, weil die Aussteiger für ein Leben außerhalb der Gemeinschaft nicht ausgerüstet sind und ihre Identität gebrochen ist. In Deutschland wäre diese Lebensweise schon aufgrund der allgemeinen Schulpflicht und Reglementierung der Privatschulen nicht in gleicher Weise möglich. Es ist notwendig über religiösen Fundamentalismus zu sprechen, egal welche Religion deren Hintergrund bildet. Feldmans Buch ist ein wichtiger Schritt dazu. Auf Grundlage dieses Buches wurde kürzlich ein Miniserie auf Netflix veröffentlicht. Die Rahmenhandlung wurde für den Film absichtlich stark verändert, das Leben innerhalb der chassidischen Gemeinschaft aber mit viel Sorgfalt im Detail dargestellt. In großen Teilen der Serie wird Jiddisch gesprochen, versehen mit deutschen Untertiteln. Die Serie ist sehr sehenswert, sollte aber die Lektüre des Buches nicht ersetzen. Deborahs Erzählung und Mut haben mich gefesselt und sehr bewegt. Es ist ein enorm wichtiges, gut geschriebenes Buch, das uns zeigt, wie wenig aufgeklärt und frei die Welt noch im 21. Jahrhundert sein kann und dass Widerstand gelingen kann.

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