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Rezension zu
Eine Odyssee

Von Vätern und Söhnen

Von: Atalante
11.12.2019

„Die Odyssee selbst bewegt sich durch die Zeit in der gleichen gewundenen Weise, wie sich Odysseus durch den Raum bewegt.“ Wie die beiden zuvor besprochenen Bücher handelt es sich auch bei „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn um ein Vaterbuch. „Mein Vater, ein Epos und ich“, so der Untertitel, wurde jedoch nicht von mir gewählt, sondern von unserem Literaturkreis. Bereut habe ich es nicht, was ich nicht von jeder unserer Lektüren behaupten kann. Nicht nur mir, auch den anderen Teilnehmern, zumindest den Anwesenden, hat Mendelsohns „Odyssee“ sehr gut gefallen. Vordergründig erzählt der Altphilologe und Uni-Dozent Daniel Mendelsohn von einem Odyssee-Seminar und dem Wunsch seines Vaters Jay daran teilzunehmen. Im Laufe der Geschichte wird das Seminar für Vater und Sohn zum Anlass und Vehikel über Gemeinsames nachzudenken. Mit dem Epos als Schatzkarte gräbt Mendelsohn in der Vergangenheit und bringt Geschichten zu Tage, die er mit den Ereignissen der Odyssee in Verbindung bringt. Schon beim Aufbau seines Buchs dient ihm das Epos als Vorbild. Wie in diesem und anderen Epen der Antike steht zu Beginn das Proömium, welches die wichtigsten Ereignisse der nachfolgenden Handlung vorausschauend benennt. Wir erfahren von Mendelsohns Uni-Seminar, der Teilnahme des Vaters, dessen Weigerung Odysseus als Held zu betrachten, hören von dem aus einem Türblatt gebauten Bett, der Kreuzfahrt auf Odysseus' Spuren, die ausgerechnet um Ithaka einen Bogen macht, schließlich vom Sturz des Vaters, der letztendlich zu dessen Tod führt. Wenn man dies alles bereits zu Beginn erfährt, sollte man dann überhaupt noch die restlichen Seiten lesen? Unbedingt! Schließlich will man erfahren, wie dies alles geschieht und vor allem, wie es erzählt wird. Dies gilt für Mendelsohns „Odyssee“ und erst recht für das Original, dessen kunstvolle Erzählkonstruktion Mendelsohn nicht minder kunstvoll adaptiert. Es handelt sich um die Ringkomposition, eine in der antiken griechischen Literatur gepflegten Erzähltechnik. Eine Erzählung beginnt, schweift, um etwas zu erklären, auf eine zurückliegende Episode ab, wählt einen weiteren Umweg und vielleicht noch einen, um schließlich wieder zur eigentlichen Geschichte zurück zu kehren. Solche Assoziationsspiralen kennen wir aus dem Alltag, sie unterlaufen beim mündlichen Erzählen und führen bisweilen „vom Hölzchen aufs Stöckchen“. Mendelsohn hingegen kriegt immer die Kurve, er beherrscht dieses Konstruktionsprinzip perfekt. In diesen Kurven führt er uns durch sein Buch. Seine „Telemachie“ beispielsweise beginnt mit der Kindheitserinnerung des Vaters an den Lateinunterricht, greift dann mit einer Kreuzfahrt-Episode Künftiges vor, schwenkt auf ein weit zurückliegendes Gespräch, um erneut in der Vergangenheit des Vaters zu landen, die den Erzähler an Telemachos‘ Erstaunen über Menelaos‘ Palast erinnert, und mit einem erneuten Einschub führt sie schließlich wieder zum Lateinlehrer des Vaters. Doch die Leserin folgt nicht nur diesem Geflecht, das in der Analyse komplizierter klingt, als es zu lesen ist, sie sitzt auch im Seminar. Dort hört sie von den Ereignissen des Epos, folgt den Interpretationen des Dozenten und den Diskussionen mit den Studenten. Geschickt bindet Mendelsohn dabei Philologisches ein. Die verschiedenen Theorien zur Entstehung des Epos, aus einem Guss oder ein Konglomerat, fehlen ebenso wenig wie die Fragen zur Identität seines Verfassers, war Homer einer oder viele. Es wird ein wenig konjugiert, sogar eine Seite in altgriechischer Schrift fehlt nicht. Erhellend sind Mendelsohns Wortanalysen. Wer weiß schon, daß Odysseus‘ schlaue Wahl des Namens „Niemand“, die ihn aus der Kyklopen-Höhle entkommen lässt, im Original durch doppelte Doppeldeutigkeit an Raffinesse übertroffen wird? Die Diskussionen mit den Studenten, unter denen Vater Jay als besonders kritisch hervortritt, verlaufen anders als es Dozent Mendelsohn plant. Es tauchen unerwartete Fragen auf. Ist Odysseus ein Held, wenn er unablässig die Hilfe der Götter erhält? Hofft Telemachos unbewusst auf den Tod seines Vaters? Und sind all‘ die Abenteuer, die Odysseus den Phaiaken berichtet, nichts anderes als Lügengeschichten? Gerade die letzte Frage erzeugt beim Blick auf das stete Hin- und Herschwenken zwischen den Erzählebenen, eine Frage an Mendelsohns „Odyssee“. Ist die Geschichte, die der Autor uns von einem Reisebegleiter der Kreuzfahrt berichtet, nicht auch eine erfundene? „Niemand wird dir glauben“, lautet jedenfalls Jays Prophezeiung. Die Erfahrungen im Seminar stellen Mendelsohns Herangehensweise an das Epos ebenso in Frage, wie seine Sicht auf den Vater. So wie seine Studenten ihm neue Blickweisen auf die Odyssee vermitteln, lehrt die Odyssee ihn neue Facetten des Vaters. Diese werden während der Kreuzfahrt ganz real greifbar. Bisweilen werden die alten Konflikte zwischen Vater und Sohn ein wenig melodramatisch geklärt. Dies sei meine einzige Kritik an dem Buch, das für mich tatsächlich die Entdeckung des Jahres ist. Es motivierte mich, die Odyssee zu hören, einen meiner Literaturkreis-Kollegen sogar seine Ehe auf Homophrosyne abzuklopfen. So wird Daniel Mendelsohn, indem er in seiner „Odyssee“ von Vätern und Söhnen, von Lehrern und Schülern erzählt, auf unterhaltsame Weise zum Lehrer seiner Leser.

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